[Ilum | Gebirgslandschaft | Kristallhöhlen | Eingangshalle | in Meditationshaltung neben einem Heizstrahler] Nen-Axa
Abseits allen Zeigefühls und weltlicher Lasten wie Hunger, Kälte und Müdigkeit saß Nen-Axa da und lauschte auf die Stimmen in seinem Innern. Er erforschte die zugleich vertraute und verwirrende Welt seiner Erinnerungen. Dabei kamen Bilder und Gefühle hoch, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass sie noch in ihm steckten. Erlebnisse, an die er seit Jahren nicht gedacht hatte. Sorgen und Ängste, von denen er geglaubt hatte, dass sie längst überwunden wären. Alter Schmerz, aber auch Momente größter Freude. Eine unbestimmte Zeit lang sah er sich diese Bilder aus der neutralen Perspektive eines Betrachters an: Sie liefen wie ein Holodrama mit plötzlichen Schnitten und undurchschaubarer Handlungslinie vor ihm ab. Doch irgendwann begannen die Eindrücke plastischer, greifbarer zu werden. Er schien sich nun nicht neben, sondern mitten im Geschehen zu befinden, die Szenen tatsächlich noch einmal zu erleben, Orte erneut zu besuchen, Träume noch einmal zu träumen. Und schließlich schienen die Figuren lebendig zu werden. Es war, als könnten sie ihn wahrnehmen, und dann begannen sie, auf ihn zu reagieren. Er wusste nach wie vor, dass sie nicht wirklich hier waren; dass er sich auf Ilum befand und eine geistige Reise in sein Innerstes unternahm. Aber mit den Gestalten, die sein Unterbewusstsein erzeugte, konnte er interagieren wie mit lebenden Personen. So führte er eine Unterhaltung mit seinen Eltern - mit seiner Vorstellung von ihnen - darüber, wie ihr früher Tod den Verlauf seines Lebens beeinflusst hatte. Mit einer Freundin, die er vor seiner Frau kennengelernt hatte, sprach er darüber, weshalb ihre Beziehung nicht gehalten hatte. Es folgte ein interessanter weltanschaulicher Disput mit seiner alten Lehrerin Eleonore und Meister Yeedle. Und dann begegnete er plötzlich einer kleinen, pelzigen Gestalt: Lerameé. Sie saß in seinem "wilden Garten", dem von Grün überwucherten Innenhof einer Industrieruine im Herzen von Lola Curich. Dort hatte er das erste Gespräch mit ihr geführt, bevor sie sein Padawan geworden war. Sie hockte dort auf einem moosbedeckten Betonbrocken. Ihr Botenschmetterling flatterte um ihren Kopf herum.
»Wollt Ihr Euch zu mir setzen, Meister?« fragte sie lächelnd, als sie ihn kommen sah. Ihr drolliges Gesicht mit den großen Augen strahlte die Freundlichkeit aus, die er an ihr vom ersten Augenblick an geschätzt hatte.
»Gern«, sagte er und ließ sich neben ihr nieder. »Aber dein Meister bin ich nicht mehr.«
»Warum eigentlich nicht?« fragte sie.
Die Frage überraschte ihn, denn das wusste Lerameé doch mindestens so gut wie er. Aber dann erinnerte er sich, dass er nicht wirklich auf Lianna war und dass es die Frage war, die er sich selbst immer und immer wieder stellte. Wieso hatten seine Padawane ihre Ausbildung so rasch wieder abgebrochen?
»Das fragen wir uns die ganze Zeit. Seit du nach Maridun zu deiner Familie zurückgekehrt bist.«
»Aber damit gebt Ihr Euch die Antwort doch bereits?«
»Was meinst du damit?«
»Ich bin in meine Heimat und zu meiner Familie zurückgekehrt. Ihr wisst doch selbst, wie wertvoll die Familie ist. Ich hatte mein ganzes Leben lang nichts anderes gesehen als Maridun - und dann plötzlich kam ich von dieser idyllischen, grünen Welt nach Lianna. Unter lauter Fremde, Tausende Lichtjahre von zuhause entfernt. Um ein völlig neues Leben anzufangen, von dem ich noch nicht wusste, wohin es mich führen würde. Ist es so erstaunlich, dass ich mit dieser Entscheidung haderte und den Wunsch verspürte, umzukehren?«
»Nein, ist es nicht«, erwiderte Nen-Axa zögernd. »Das wäre nur versändlich. Aber es wäre zu einfach, diese naheliegende Antwort als die ganze Wahrheit zu akzeptieren. Sie beantwortet nicht, ob genug getan wurde, damit du dich auf Lianna heimisch fühlen kannst. Ob wir genug getan haben, um dich auf den Weg der Jedi vorzubereiten.«
Die imaginäre Lerameé streckte die Hand aus und Jah'nia landete auf ihrem Zeigefinger.
»Stimmt, es wäre ziemlich einfach. Aber manchmal sind die einfachen Antworten trotzdem die richtigen. Ihr hattet das Gefühl, dass ich mich wohl fühlte, als ich meine Heimat wieder sah, nicht wahr?«
»Ja. Du wirktest glücklich.«
»Es gab auch keine Anzeichen dafür, dass ich dort nicht gut aufgehoben wäre. Meine Familie war froh, dass ich zurückgekehrt war, und ich war es auch. Ich hätte noch genug Gelegenheit gehabt, meine Entscheidung zu ändern, bis Ihr wieder abgeflogen seid, doch das habe ich nicht getan. Was also ist falsch daran?«
Auf diese Frage hatte Nen-Axa keine direkte Antwort. Daher schwieg er, bis die Lurmen fortfuhr:
»Ihr wolltet immer Padawane ausbilden, Meister. Habt Ihr Euch je die Fage gestellt, warum Ihr das tun wollt?«
»Um das Wissen, das mir geschenkt wurde, weiterzugeben«, antwortete er. »Die Jedi haben uns einen ganz neuen Lebensweg eröffnet. Sie haben uns Halt und ein Ziel gegeben, die uns zuvor gefehlt haben. Diese Chance wollte ich auch anderen geben.«
»Also ging es nie um Euch selbst? Um das Ansehen, das damit einher geht, erfolgreich einen Jediritter ausgebildet zu haben? Oder um die Möglichkeit, dadurch zum Meister ernannt zu werden? Um den Einfluss und die Privilegien, die man als Mitglied des Rates geniest?«
»Nein, niemals! Um so etwas ging es mir nie!«
»Also hattet Ihr stets vor allem mein Wohl im Sinn.«
»Ja. Und ich weiß, was du nun sagen willst. Wir sollen nicht darüber nachdenken, was du vielleicht geworden wärst, sondern uns einfach darüber freuen, dass du mit deinem jetztigen Leben glücklich bist. Aber wir wissen auch, dass du nicht wirklich Lerameé bist, sondern nur ein Teil meines Unterbewussseins. Du versuchst, mein Gewissen zu beruhigen; dabei kannst du gar nicht wissen, ob sie wirklich glücklich ist.«
»Man hat dir oft geraten, deine Gefühle zu erforschen und dir sowie der Macht zu vertrauen«, antwortete die imaginäre Lurmen mit einem ruhigen, weisen Lächeln.
»Angenommen, wir würden das akzeptieren und uns darüber freuen, dass Lerameé weiß, wo sie wirklich hingehört. Was ist mit Krazark? Er hatte kein Ziel, als er uns verlassen hat, kein Zuhause und keine Perspektive. Bei ihm hatte ich wirklich nicht den Eindruck, dass er in ein glückliches Leben aufbricht.«
Diese Frage beantwortete nicht Lerameé, sondern Krazark Shaat selbst. Der Tusken mit der gruseligen Maske saß neben Nen-Axa im Gras, als wäre er schon die ganze Zeit dort gewesen. Während er sprach, flatterte Jah'nia zu ihm herüber und setzte sich kurz auf seine Schulter, bevor sie wieder weiter flog.
»Das stimmt. Ich hatte keine Perspektive. Ich hatte sie nicht als ich zum Orden kam und auch nicht, als ich ihn verlassen hatte. Hättet ihr mir eine geben können, Meister?«
»Ja!« antwortete Nen-Axa. »Der Jedi-Orden kann Halt geben, kann helfen, einen neuen Sinn im Leben zu finden. Das haben wir selbst erlebt! Wenn du uns nur mehr Zeit gegeben hättest, Krazark... Du hättest ein neues Zuhause finden können!«
»Denkt Ihr denn, dass der Orden der geeignete Ort für ein Individuum mit meiner Vorgeschichte ist? Für den Abkömmling einer Kriegersippe, aufgewachsen mit einer Kultur voller blutiger Rituale, dominiert vom Recht des Stärkeren? Zege geworden von der Ermordung der eigenen Familie, danach jahrelang in Sklaverei bei Tossa dem Hutt, dessen Grausamkeit Ihr selbst erleben durftet...«
»Das klingt, als sollten wir dir die Schuld geben«, widersprach er dem imaginären Tusken. »Aber du kannst nichts für deine Vergangenheit.«
»Ihr ebenfalls nicht.«
»Es hat schon andere gegeben, die aus ähnlich schrecklichen Verhältnissen kamen und dennoch bei den Jedi Halt gefunden haben. Dank der Hilfe des Ordens und ihrer Lehrmeister fanden sie Frieden und konnten große Jedi werden.«
»Die gab es zweifellos. Aber wie viele andere gab es, denen das nicht gelungen ist? Die niemals die nötige Ruhe fanden, um die Macht zu erforschen, oder die sogar der dunklen Seite verfielen?«
»Willst du damit sagen, wenn wir dich... wenn wir Krazark ausgebildet hätten, wäre er ein dunkler Jedi geworden?«
Das Abbild des Padawans zuckte mit den Schultern.
»Das kann keiner wissen. Aber Fakt ist doch, dass ich nicht in den Orden kam, weil ich es für das Richtige hielt. Ich teilte die Ideologie und die Ziele der Jedi nicht. Es war mehr ein Hilferuf, der Wunsch danach, aufgehoben und behütet zu sein. Eine lange Flucht vor der eigenen Vergangenheit endlich beenden zu können. Meint Ihr, das waren die richtigen Motive, um ein Jedi zu werden?«
»Es waren dieselben Motive wie bei mir selbst!«
»Dann seid Ihr vielleicht auch aus den falschen Gründen Jedi geworden«, behauptete der imaginäre Krazark Shaat.
Die Worte trafen Nen-Axa schwer.
»Dann sollten wir uns wohl eher die Frage stellen, ob wir selbst beim Orden richtig sind?«
»Das steht wohl kaum zur Debatte«, verneinte der Tusken. »Daran hattet Ihr seit Jahren keinen Zweifel mehr, selbst in den schlimmsten Stunden nicht. Aber ich hatte sie. Genau wie Ihr hatte ich einen Meister, der viele Fragen stellte und zum Denken anregte. Ihr habt mich immer wieder angehalten, darüber nachzudenken, ob ich wirklich bereit bin für ein Leben im Dienst an der Gesellschaft. Ob ich Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft zu meinen Prinzipien machen möchte.«
»Wir haben dich damit unter großen Druck gesetzt.«
»Ja. Aber Ihr würdet es wieder tun.«
»Diese Fragen sind wichtig. Wer nicht dazu bereit ist, sein eigenes Wohl unter das Anderer zu stellen, wird immer an der Bruchkante zur schwarzen Seite stehen.«
»Warum seid Ihr dann nicht zufrieden mit der Antwort, die ich Euch gegeben habe?«
»Heißt das, ich soll mich darüber freuen, dass Krazark die Ausbildung nicht beendet hat, weil er es aus den falschen Gründen und im falschen Geist getan hätte? Das scheint wieder die einfachste Antwort zu sein.«
»Und wieder muss das nicht hießen, dass es die falsche ist.«
Durch Krazarks Maske und die Stoffbandagen konnte man seine Gesichtszüge nicht sehen, doch Nen-Axa war sicher, dass er lächelte. Sein Blick fiel hinüber auf Lerameé, und sie erwiderte das Lächeln.
»Wir werden darüber nachdenken müssen«, murmelte der Arcona.
»Das tut Ihr gerade, Meister«, antwortete Lerameé.
»Im Moment rede ich mit zwei Stimmen in meinem Unterbewusstsein. Warum sollte ich euch vertrauen?«
»Weil Ihr Euch selbst vertrauen müsst«, behauptete die Lurmen. »Sonst könntet Ihr auf gar nichts mehr vertrauen.«
Und Krazark fügte hinzu:
»Wahrer Glaube, wahres Vertrauen und wahre Überzeugung sind immer im Unterbewusstsein zuhause. Ihr könnt weiter versuchen, sie zu verleugnen, indem Ihr Euch weigert, sie in Euer bewusstes Ich vordringen zu lassen. Aber wenn Ihr das wolltet, warum solltet Ihr dann hier sein?«
Bevor er darauf antworten konnte, wachte Nen-Axa auf. Er blinzelte in die finstere Kälte des Kristallhöhlentempels und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Ein schriller Ton hatte ihn geweckt. Dieser stammte von seinem Heizstrahler und sollte ihn warnen, dass der Brennstoffvorrat sich bald erschöpfen würde. Sehr, sehr schwerfällig wandte der Arcona sich zu dem Gerät um. Seine Glieder fühlten sich steif an und seine Muskeln gehorchten seinem Willen kaum. Trotz aller Vorkehrungen war Kälte in seinen Körper geschlichen. Mühsam rutschte er näher an den Brenner heran und kontrollierte die Anzeigen. Tatsächlich standen sie auf Reserve.
»Das kann doch nicht sein«, murmelte er. Da seine Zunge ebenso schwerfällig war wie der Rest seines Körpers, lallte er wie ein Betrunkener. »Die Energie hätte für eine volle Woche reichen sollen!«
Er schleppte sich zu seinem Gepäck und kramte nach dem Chrono. Es bestätigte einen erstaunlichen Verdacht: Der Heizstrahler hatte keine Fehlfunktion; der Brennstoffvorrat war voll gewesen und hatte sich nich schneller als erwartet erschöpft. Nen-Axa hatte tatsächlich acht Tage und Nächte lang vor ihm gekauert, ohne zu essen, zu schlafen oder ein Glied zu bewegen. Eigentlich hätte er nun totkrank sein müssen, dem Verdursten nahe. Seine Muskeln sollten angefangen haben, zu degenerieren, so dass er gar nicht mehr in der Lage wäre, sich zu bewegen, ohne von Krämpfen geschüttelt zu werden. Aber die Zeit war während der Meditation beinahe spurlos an ihm vorübergegangen, abgesehen davon, dass seine Körpertemperatur trotz aller Vorkehrungen um beinahe zehn Grad gefallen war. Er hatte offenbar einen Zustand der Trance erreicht, der tief genug war, um... ja, was eigentlich?
›Vielleicht war es eine Heiltrance‹, mutmaßte er stumm, während er sich mit steifen Fingern abmühte, einen neuen Brennstoffbehälter in den Heizkörper einzusetzen. ›Ein Zustand nicht nur geistiger, sondern auch körperlicher Verbindung mit de Macht. Wir wissen, dass es das gibt: Andere Jedi versetzen sich während langer Reisen in diesen Zustand und können dann für eine beachtliche Weile auf Essen, Wasser und Schlaf verzichten. Doch es ist das erste Mal, dass wir es selbst erleben.‹
Er klappte den Heizstrahler wieder zu und drehte seine Leistung auf volle Stufe. So nah wie möglich rückte er heran. Eine reifüberzogene Decke legte er nur über seine Schultern und den Rücken: Die Vorderseite sollte die wärmende Strahlung ungehemmt aufnehmen können. Sein Blick schweifte auf die Stein- und Eiswände ringsum, die im Infrarotlicht funkelten und leuchteten. Für eine Weile genoss er einfach den Anblick - sein Geist fühlte sich leer an, ebenfalls eine Nebenwirkung der Kälte. Erst als ihm wärmer wurde, kamen auch Hunger und Durst auf und er suchte nach seinen Vorräten. Essen konnte er sofort, aber Wasser musste er erst auftauen. Mit dem heißen Tee, der durch seine Kehle rann und ihn auch innerlich erwärmte, kehrten seine Lebensgeister zurück.
[Ilum | Gebirgslandschaft | Kristallhöhlen | Eingangshalle | neben einem Heizstrahler] Nen-Axa