Kirdo III (Kirdo-System)

Wonto Sluuk

Blauer Elefant
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Kirdo III
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[ Infos zum Planeten: Kirdo III (engl.) | Kirdo III (dt.) ]

[ Zugehörigkeit: Neutral ]​


Lage: Outer Rim, Tamarin-Sektor, Kirdo-System

Hyperraumrouten: Sanrafsix Corridor

Klima: Heiß und trocken. Stürme bis 400 km/h Windgeschwindigkeit. Alle 10 Jahre starke Regenfälle.

Terrain: Wüste, Hügel, ausgetrocknete Fluss- und Seebetten, Felshöhlen, Fließsandgruben

Flora und Fauna: Wüstengewächse, darunter die Sulfaro-Pflanze und die Chidinka, aus deren Wurzel die Chidinkalu-Flöte geschnitzt wird. Die Fauna reicht von den Chooba-Schnecken bis zu großen Raubtieren, die in Fließsandgruben lauern.

Einheimische Spezies: Kitonak
 
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Regen. Das bedeutete, dass Wasser plötzlich im Überfluss vorhanden war. Es fiel vom Himmel und durchnässte alles, was nicht unter Planen oder Dächern stand. Binnen kurzer Zeit konnte es Bäche und Flüsse anschwellen lassen, harte Erde in Schlamm verwandeln, Erdrutsche oder Fluten herbeiführen, aber es tränkte auch Pflanzen und Tiere, war eines der Urelemente des Lebens. Für viele Bewohner der Galaxis war Regen etwas Alltägliches, sie empfanden ihn oft sogar als lästig. Nicht aber die Bevölkerung von Kirdo III. Dort gab es im Schnitt nur einmal pro Jahrzehnt eine erwähnenswerte Menge von Niederschlag, und auch wenn das nasse Element es dabei stets beinahe zu übertreiben pflegte, gab es für die Kitonaks kein größeres Fest. Die paar Tage, an denen sich das Wetter plötzlich um hundertachtzig Grad wendete und starke Regenfälle an die Stelle von Hitze und Sandstürmen traten, waren für sie eine Zeit ausgelassener Freude.

Zot hatte zum ersten Mal diese ›Feier des Lebens‹ miterlebt, zumindest bewusst. Er war, wie die anderen Kitonaks seiner Generation, während der letzten Regenfälle zur Welt gekommen, ein Ereignis, an das er sich selbstverständlich nicht erinnerte. Das lag nun zehn Jahre zurück – seit einem Jahr galt er als erwachsen. Daher war dieses Ereignis völlig neu und fremdartig für ihn gewesen, zugleich aber unsagbar schön. Sich mit dem ganzen Körper im Wasser und Schlamm zu wälzen, war ein unvergleichliches Gefühl für ein Wesen, das sein ganzes Leben lang jeden Tropfen Flüssigkeit gesammelt und gehütet hatte wie einen Schatz. Ausgelassen hatte er mit den anderen im Fluss gespielt – und mehr. Während des ›Tanzes der Liebe‹ hatte er sich zum ersten Mal mit einer Frau vereinigt.

Das lag nun schon einige Wochen zurück. Das meiste Wasser war längst versickert oder verdampft. Auch das üppige, kurzlebige Grün, das binnen weniger Tage gesprossen war, hatte längst ausgesamt und war wieder in der Hitze vergangen oder von den tierischen Bewohnern der Wüste abgefressen worden. Abgesehen davon, dass in den größeren See- und Flussbetten noch etwas Schlamm zurückgeblieben war und die Wüstenpflanzen saftiger wuchsen als zuvor, hatte die Umwelt der Kitonaks beinahe wieder ihr normales Gesicht angenommen. Für Zots Stamm und auch alle anderen Gemeinschaften auf dem Planeten wirkte die Regenzeit jedoch in zweifach positiver Weise nach. Zum einen hatten sich mit der erblühenden Vegetation auch die Chooba-Schnecken schlagartig vermehrt, so dass es an Nahrung nicht mangelte. Zum anderen waren während der Feier des Lebens all die Kinder geboren worden, die während des letzten Tanzes der Liebe gezeugt worden waren. Die meisten waren gesund und lebensfähig zur Welt gekommen und so hatte der Stamm starken Zuwachs bekommen, der mit ihnen die üppigen Nahrungsquellen der ungewohnt fruchtbaren Wüste teilte. Daher hielt die Hochstimmung der Kitonaks auch nach dem Ende des Regens noch vor.

Dies merkte man vor allem beim ›Erzählen der Geschichte‹, jenem allnächtlichen Ritual, das die einzelnen Kitonaks mehr als alles andere zu einer eng verbundenen Einheit zusammenschweißte. Gemeinsam woben sie Faden um Faden einen bunten Teppich der Phantasie, indem einer eine Geschichte begann, die sie dann alle gemeinsam weitererzählten und mit immer neuen Aspekten füllten. Seitdem der Regen all den Staub aus der Atmosphäre gewaschen hatte, war der Himmel klarer denn je und zahllose Sterne funkelten auf sie herab, als sie auch in dieser Nacht beisammen saßen, um - untermalt von der Musik der Chidinkalu-Hörner – die längste Geschichte weiter zu erzählen, die Zot jemals gehört hatte. Seine Mutter Drema hatte sie begonnen, und zwar bereits vor acht Nächten. Es war eine fröhliche Geschichte, in der es keine unlösbaren Probleme, keine schweren Schicksalsschläge und kein unverdientes Leid gab. Mit jedem Stammesmitglied, das einen Faden aufnahm und weitersponn, erhielt sie neue Wendungen, so dass sie immer spannend und abwechslungsreich blieb.

In dieser Nacht ergriff die alte Eka das Wort, und wie fast immer fügte sie der gemeinsamen Geschichte besonders fremdartige und phantastische Elemente hinzu. Erzählungen von Sternenschiffen, von fernen, fremden Welten und von hastigen, schnelllebigen Wesen in unterschiedlichsten Gestalten. Solches Wissen hatte Eka aus der Zeit, bevor sie nach mehrjähriger Sklaverei bei den Außenweltlern in ihre Heimat zurückgekehrt war und sich Zots Stamm angeschlossen hatte. Zumindest galt das für die Urfassung ihrer Erzählungen, denn mittlerweile hatte sich die Geschichte Dutzende Male gewandelt und war mit den Ideen Anderer durchmengt worden, so dass unmöglich noch ein anderer als die Alte selbst sagen konnte, was sie nun wirklich erlebt hatte und was dem gemeinsamen Erzählen entsprungen war. Jedenfalls war ihr Erfahrungsschatz eine enorme Bereicherung für die Stammesgemeinschaft und Eka war bei weitem nicht die einzige, die immer wieder gerne diese Elemente in eine Geschichte einstreute.

Heute war ihre Erzählung besonders farbenfroh, und als sie schließlich endete, übernahm Zots Freund Barc, um ihr mit einem Ausflug in die kitonakische Mythologie abermals einen völlig neuen Aspekt hinzuzufügen. Indem er die Protagonisten die verbotene Reise in eine Höhle und damit in die sagenumwobene Unterwelt antreten ließ, erhielt die Geschichte eine anregend düstere und unheimliche Wendung. Doch so, wie die Dinge derzeit standen, war Zot absolut sicher, dass die verirrten Seelen entgegen aller Wahrscheinlichkeit und besseren Wissens wohlbehalten zur Oberwelt zurück finden würden. Es war einfach nicht denkbar, dass diese Erzählung ein dunkles Ende nahm.

Langsam ließ Zot sich in den Sand zurücksinken und blickte hinauf in den schwarz-silbrigen Sternenhimmel, in dessen Tiefe irgendwo das Kosmische Ei schwebte und seinen Blick erwiderte. Es hatte die kleine Gemeinschaft wahrlich gesegnet. Der junge Kitonak wünschte sich in diesem wunderbaren Augenblick nicht mehr, als dass alle Dinge so bleiben sollten wie sie waren. Er war glücklich.


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Am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, setzten die Chooba-Schnecken ihre Wanderung durch die Wüste fort, und ihnen folgten die Kitonaks. Die kleinen, nahrhaften Tiere waren die einzige Nahrungsquelle der hochspezialisierten Wesen, weshalb man die einen nur selten ohne die anderen antraf. Dabei gaben die Choobas die Richtung vor, denn sie wurden von den Kitonaks nicht als Haustiere gehalten, sondern lebten frei und wild. Sie suchten sich ihre pflanzliche Nahrung selbst. Jetzt, so kurze Zeit nach den Regenfällen, war für sie natürlich ein übergroßes Nahrungsangebot vorhanden. Und das bedeutete, dass auch ihre Jäger keine Not leiden mussten. Zur Zeit aßen die Mitglieder von Zots Stamm häufiger als üblich: Ihre letzte Mahlzeit lag kaum mehr als zwanzig Tage zurück, dennoch wollten sie sich heute erneut zur Jagd aufmachen. Ja, auch sie genossen diese kurze Periode des Wohlstandes in vollen Zügen.

Die Choobas waren nicht gerade schnell. Aber das konnte man von den Kitonaks ebenso wenig behaupten. Sie waren für eine regelrecht entnervende Langsamkeit bekannt. Dennoch kamen sie mit ihren riesigen Füßen auf dem Sand noch deutlich zügiger voran als die Schnecken. Schon im Morgengrauen war der gesamte Stamm aufgebrochen, nun wurde es Mittag. Die wenigen Stunden hatten genügt, um die langsam vorwärts kriechende Chooba-Herde zu überholen und sich vor sie zu setzen. Die Schnecken wanderten fast immer gegen die Windrichtung: Das ermöglichte es ihnen, vor ihnen liegende Nahrungsquellen zu wittern. Und nun, da die Kitonaks vor ihnen waren, witterten sie diese. Doch das schreckte sie nicht ab, im Gegenteil.

Der Körpergeruch von Zots Volk ähnelte dem Duft von Vanille. Natürlich wussten die Kitonaks das nicht, denn Vanille war ihnen fremd. Sehr bewusst war ihnen aber, dass sie den Geruch noch mit einer anderen Pflanze teilten: Der Sulfaro, der Hauptnahrungsquelle der Choobas. Sie mussten sich nicht einmal die Mühe machen, die langsamen Tiere einzusammeln; sie konnten einfach warten, bis diese bereitwillig zu ihnen kamen.

Beinahe hundert Kitonak jeden Alters vom Kleinkind bis zum Greis kauerten sich in den Sand. Sie verschlossen die Augen und Ohren vollständig und sperrten die Münder auf. So konnten sie stunden- oder, wenn es nötig war, sogar tagelang ausharren und darauf warten, dass eine Chooba-Schnecke sie bemerkte. In diesem Fall mussten sie sich allerdings nicht so lange gedulden, denn die Herde war direkt zu ihnen unterwegs und der Wind trug ihnen die Witterung der vermeintlichen Pflanze zu. Höchstens zwei Stunden hockte Zot wort- und regungslos da, bevor die ersten Beutetiere sich der Gruppe näherten.

Obwohl seine Augen geschlossen waren, wusste Zot, dass eine der Schnecken ihn bemerkt hatte. Einige Minuten später spürte er ihre Berührung am linken Fuß. Das knochenlose Tier betastete ihn mit den Fühlern. Solange er sich nicht bewegte, konnte es ihn optisch nicht von den wulstigen, blassrosafarbenen Wüstengewächsen unterscheiden, und auch der Tastsinn der Chooba wurde getäuscht, denn die Haut der Sulfaro war auch von ähnlicher Beschaffenheit wie die eines Kitonak. Der junge Nomade fühlte das raue, raspelartige Maul, mit dem die Schnecke vergeblich versuchte, an das saftige Innere der imitierten Pflanze zu gelangen. Da sie damit keinen Erfolg hatte, begann sie schließlich, an ihm empor zu kriechen.

Sie glitt zunächst langsam an seinem Bein hinauf, immer wieder kurz innehaltend und versuchend, ob sie nicht eine Schwachstelle in der überraschend zähen Hülle fand. Da dem nicht so war, setzte sie die Wanderung fort. Sie erreichte Zots Hüfte und umrundete dessen Körper einmal um Bauch und Rücken herum. Da auch weder die Schulter noch der Hals durchdringlich war, suchte sie weiter. Und schließlich fand sie eine Öffnung in der Pflanzenschale, aus der das verlockende Vanillearoma noch stärker strömte. Sie kroch hinein - und besiegelte damit ihr Schicksal. Hinter ihr klappte der Eingang zu und das dumme Tier bemerkte seinen Irrtum wahrscheinlich nicht einmal, als Zot es im Ganzen verschlang. Es war auf die perfekte mimetische Anpassung der Kitonak hereingefallen und musste diesen Fehler mit dem Leben bezahlen.

Für Zot jedoch war es ein guter Tag. Er gehörte zu den ersten, die auf diese Weise ihre Mahlzeit bekamen. Eine Weile blieb er noch sitzen und freute sich über das Aroma der Schnecke und das angenehm volle Gefühl in seinem Magen. Erst nach einigen Minuten erhob er sich langsam. Eine zweite Chooba, die an ihm ihr Glück versuchen wollte, fiel dabei von seinem Fuß. Er war für die nächsten drei bis vier Wochen gesättigt, das Tier orientierte sich neu und steuerte auf einen von Zots Artgenossen zu.

Langsam entfernte sich der junge Kitonak aus dem falschen Sulfarofeld. Aus einiger Entfernung sah er der weiteren ›Jagd‹ zu. Insbesondere gefiel es ihm, die ganz kleinen zu beobachten. Selbst die jüngsten Mitglieder des Stammes ernährten sich schon wie die Erwachsenen; allerdings waren ihre Münder und Mägen noch zu klein, um eine ausgewachsene Chooba zu fassen. Sie mussten also ausharren, bis ein entsprechend junges und kleines Exemplar zu ihnen fand: Eine Probe ihrer Geduld.

Zot beobachtete seine kleine Schwester - auch sie war während der Feier des Lebens geboren - auf deren winzigem Körper sich mittlerweile fünf Schnecken tummelten, die alle nicht durch den Mund passen wollten. Das Kind wurde ungeduldig und bewegte sich, woraufhin alle fünf Choobas von ihr abfielen. Die kleine gab einen missmutigen Ton von sich, erstarrte dann aber wieder in Bewegungslosigkeit und sperrte das hungrige Mäulchen auf, um den Tieren eine zweite Chance zu geben. Dass man sie auch einfach mit einer kleinen Chooba füttern könnte, kam den erwachsenen Kitonak überhaupt nicht in den Sinn. Früher oder später würde auch die Kleine satt werden, das war nur eine Frage der Zeit. Und Geduld galt schließlich als eine der edelsten ihrer Tugenden.

Es war noch nicht Abend, als auch Zots Schwester satt und zufrieden war. Sie war tatsächlich das letzte Mitglied der Gruppe gewesen, das zu seiner Mahlzeit kam. Doch an Auswahl hatte es nicht gemangelt, zuletzt hatten die nahrhaften Tiere sich um die vermeintlich letzte Sulfaropflanze gedrängt und sich fast einen Wettlauf darum geliefert, wer zuerst den Mund der Kleinen erreichte. Noch mehr Kitonaks wären heute satt geworden. Die Herde war sogar so zahlreich geworden, dass sie das Fehlen der hundert Exemplare gar nicht bemerken würde. Es blieb nur zu hoffen, dass diese paradiesischen Zustände sich noch lange nicht änderten.

Zufrieden wanderten die Nomaden in ihrer gewohnt langsamen Gangart zurück in den Windschatten hinter der Chooba-Herde. Die Sonne ging unter und es wurde Zeit, mit dem Erzählen der Geschichte fortzufahren.


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Am nächsten Tag zogen die Choobas weiter in Richtung Südosten und die Kitonaks stapften ihnen in einigem Abstand hinterher. In ihrer gewohnt langsamen Gangart setzten sie gemächlich einen Fuß vor den anderen und waren auf diese Weise nicht schneller als die wirbellosen Tiere vor ihnen. Die Kundschafter hatten berichtet, dass die Schneckenherde sich normal verhielt und von dem Verlust derjenigen Mitglieder, die am Vortag zur Nahrung für die Nomaden geworden waren, offenbar überhaupt keine Notiz genommen hatten. Diese Schar von Choobas würde Zots Stamm sicherlich auch im nächsten und übernächsten Monat noch ernähren, vielleicht sogar über noch längeren Zeitraum, falls sie auch weiterhin viel Futter fanden und ihre Zahl konstant hielten. Eine angenehme Vorstellung für die Kitonaks.

Doch derart paradiesische Zeiten dauerten in den Wüsten von Kirdo III meist nicht lange. Häufig machte die ungezähmte Natur den Bewohnern einen Strich durch die Rechnung.

Zot hielt in seinem Trott inne und drehte langsam den pilzförmigen Kopf nach Westen.


»Ein Sturm zieht auf«, sagte er; zwar ruhig und gedehnt, aber mit bestimmtem Tonfall. Er war sich seiner Sache sicher.

Die Kitonaks in der Nähe, die seine Worte hörten, verharrten ebenfalls und wendeten ihren Blick. Zunächst schwiegen sie und blickten nur mit ihren winzigen Knopfaugen in die Ferne. Erst war nichts zu sehen, aber dann erschien am westlichen Horizont ein haarfeines, unscharfes Band, das gelblich in der Sonne glänzte. Es war von den ebenfalls orangegelben Hügeln und Dünen kaum zu unterscheiden, aber sie wussten dennoch, womit sie es zu tun hatten.

»Zot hat Recht«, sagte Gron nach einer Weile. Der Kitonak gehörte zu den Ältesten und Erfahrensten des Stammes und hatte daher ein beinahe untrügliches Gefühl für Wetteränderungen und andere natürliche Phänomene. Doch diesmal war ihm der nur zehn Jahre alte Artgenosse zuvor gekommen.

»Sein Gespür ist außergewöhnlich«, fügte er hinzu. »Vielleicht wird er einmal ein sehr guter Anführer werden.«

Zot wusste, dass Gron niemals etwas Unbedachtes sagte, sondern jedes seiner Worte genau auswählte, bevor er es aussprach. Um so größer war das Lob, das er vom Bruder des Häuptlings empfing. Er überlegte einige Minuten, was er darauf wohl erwidern sollte. Doch dann entschied er, dass Worte eigentlich überflüssig waren. Er nickte dem Alten nur dankbar und ehrerbietig zu und beobachtete dann weiter das ockerfarbene Band. In den Minuten während dieses kurzen Wortwechsels war es deutlich breiter geworden.

»Ein schwerer Sturm wird es«, sagte die alte Eka noch, und Zot war der gleichen Ansicht.

Die Neuigkeit sprach sich schnell herum. Bald waren alle Stammesmitglieder damit beschäftigt, sich auf die hereinbrechende Naturgewalt vorzubereiten. In der Gegend lagen einige stattliche Felsbrocken herum. Nur wenige von ihnen waren groß genug, einem Kitonak Deckung zu bieten, doch das war auch nicht nötig. Die Erwachsenen konnten aus eigener Kraft gegen einen Sandsturm bestehen. Nur die jungen Mütter, an denen sich kleine Kinder festklammerten, suchten dort Schutz. Auch Andere nutzten die natürliche Deckung, allerdings nicht für sich selbst, sondern für ihre Habseligkeiten. Zu leicht konnte es passieren, dass eine starke Bö ihnen die Beutel von den Schultern oder dem Gürtel riss. Sie besaßen nicht viel, aber dieses Wenige wollten sie nicht einbüßen. Es war entweder sehr selten oder diente den grundlegendsten Bedürfnissen, so dass sie nicht ohne Weiteres darauf verzichten konnten. Auch Zot grub sein Bündel im Windschatten unter einem Felsblock ein, wo er es später wiederzufinden hoffte.

All diese Bewegungen gingen gewohnt langsam vonstatten, aber es gab auch keinen Grund zur Hektik. Dank des guten Gespürs der Alten sowie des jungen Zot war die Gruppe rechtzeitig gewarnt worden. Als sie mit den wenigen Vorbereitungen fertig waren, wandten sie sich dem Sturm zu und erwarteten ihn.


Was zuvor ein gelbes Band gewesen war, ragte nun als schier endlos hohe Mauer aus wirbelndem Sand vor ihnen auf. Mittlerweile hatte sich der Himmel verdunkelt, denn Staubfahnen, die der Wand vorangingen, legten sich vor die Sonne. Im Dämmerlicht war gut zu sehen, dass zahlreiche Blitze durch die Sandwolken zuckten, die sich durch ständige Verwirbelung und Reibung elektrostatisch auf- und wieder entluden. Der Wind hatte merklich aufgefrischt und erzeugte bereits ein frisches Wellenmuster im Sand. Ein tosendes Geräusch begleitete die ersten scharfen Böen, die den wartenden Stamm erreichten. Die unbezähmte Naturgewalt wirkte bedrohlich, doch brachte sie die Kitonaks nicht aus der Ruhe, auch die Kinder nicht. Dazu war mehr nötig als ein gewöhnlicher Sandsturm. Trotzdem rief Ra'ar, der Häuptling des Stammes und Grons Zwillingsbruder, beschwichtigend:

»Bleibt ruhig. Es wird vorüber gehen.«

Die Kitonaks wippten noch einmal auf und ab, um die kräftige Zehenmuskulatur zu lockern, und korrigierten ihre Fußhaltung, um möglichst sicheren Stand zu finden. Nur Augenblicke später brach der Orkan über sie herein. Schlagartig wurde es stockfinster, denn kein noch so greller Sonnenstrahl konnte die Sandmassen durchdringen, aber das machte keinen Unterschied, denn die Augen der Kitonaks waren nun sowieso zwischen dicken Hautfalten verborgen, so dass weder Licht noch ein Körnchen sie erreichen konnte. Für die Ohren und Münder galt das Gleiche. Sie waren nun unsichtbar und kaum mehr zu erahnen. Ihre ledrig zähe Haut war nun quasi hermetisch abgeriegelt und in deren Innern konnten die Nomanden das Ende des Unwetters abwarten.

Der erste Aufprall der Sandwolke fühlte sich tatsächlich wie eine Mauer an. Doch kein einziger Kitonak wurde von den Füßen gerissen oder von seinem Platz bewegt. Wie alle anderen auch, lehnte Zot sich nach vorne, mitten in den Sturm hinein. Trotz seiner Breite bot sein kurz gewachsener Körper dem Wind nur geringen Widerstand. Der kuppelförmige Kopf und der nach vorn gestreckte Rücken boten eine Stromlinienform, auf der sowohl die Orkanböen als auch die Billionen scharfkantigen Sandkörner und kleinen Steine abglitten. Zwar fühlte er, dass er etwas nach hinten geschoben und auch knöcheltief nach unten in den Sand gedrückt wurde, doch beunruhigte ihn das in keiner Weise. Er hatte in seinem zehnjährigen Leben schon viele Stürme erlebt, auch weit schlimmere als diesen hier. Ra'ar hatte Recht: Es würde einfach vorüber gehen, wie jedes Mal.


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Zunächst hatte es so ausgesehen, als handelte es sich um einen eher schwachen Sandsturm, gemessen an der Heftigkeit, die solche Phänomene auf Kirdo III maximal erreichen konnten. Das aktuelle Wetter war gemessen an Planeten mit einem gemäßigteren Klima zwar schon extrem, doch waren die Kitonaks daran gewöhnt, dass ein Orkan auch Windgeschwindigkeiten von 400 km/h erreichen, binnen kürzester Zeit ganze Landschaften umgestalten und dabei manngroße Felsblöcke herumschleudern konnte. Während der ersten zwei oder drei Stunden hatte dieser Sturm nicht den Eindruck gemacht, auch nur ansatzweise an eine solche Gewalt heranzureichen, so dass Zot und sein Stamm es für angemessen gehalten hatten, ihm ohne Deckung zu trotzen. Aber als sie gerade geglaubt hatten, dass der Sturm sich abschwächte und wohl bald enden würde, hatte er nochmals mächtig zugelegt und sich in etwas verwandelt, das selbst für die stoische Gelassenheit der Kitonaks eine Herausforderung war.

Jeder von ihnen war in diesem Unwetter völlig auf sich allein gestellt, denn es gab keine Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren. Selbst wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, die Augen zu öffnen, ohne dass diese sofort sandgestrahlt wurden, betrug die Sichtweite kaum zehn Zentimeter. Die Luft enthielt viel zu viel Sand, um zu sehen. Oder zu atmen. Zot hielt nun schon seit gut einer Stunde die Luft an, weil er vermeiden wollte, zu viele der scharfkantigen Körnchen in die Lunge zu bekommen. Ein unkontrollierter Hustenanfall unter solchen Bedingungen konnte tödlich sein. Doch das Wetter brachte noch andere tödliche Gefahren mit sich. Mit steigender Windgeschwindigkeit verfielfachten sich auch Größe und Masse der Objekte, die dem Kitonak wie Geschosse entgegen geschleudert wurden. Sie hatten bereits die Größe seiner Faust erreicht, was bei entsprechender Geschwindigkeit trotz der dicken Haut große Schmerzen und im schlimmsten Fall ernsthafte Verletzungen zur Folge haben konnte. Und wenn er selbst den sicheren Stand verlor, was von Minute zu Minute wahrscheinlicher wurde, konnte er leicht selbst zum Geschoss und gegen seine Stammesgeschwister oder feste Hindernisse geschleudert werden.

So kam der Zeitpunkt, an dem Zot entschied, sich besser zu schützen. Da keine natürliche Deckung erreichbar war, gab es nur eine Lösung: Er musste sich in den Sand eingraben. Und als der Beschluss einmal gefallen war, begann er auch sofort damit. Seine Bewegungen waren dabei sehr langsam, aber die großen Hände und Füße konnten viel Sand auf einmal fortschleudern. Der Sturm selbst erleichterte die Arbeit natürlich nicht unbedingt, denn er warf Zot so viel Material entgegen, dass ein Loch sich augenblicklich wieder füllte. Aber der Kitonak wollte ja auch keine Grube ausheben, sondern nur selbst im Sand verschwinden.

Stück für Stück arbeitete er sich in den Boden. Das erste Stück ging recht einfach, denn die oberen Sandschichten waren locker und leicht. Je tiefer er aber kam, um so anstrengender wurde es. Um Energie und wertvolle Atemluft zu sparen, kauerte er sich so klein wie möglich zusammen, damit er nicht gar so tief graben musste. Erst verschwanden seine Beine, dann auch Arme und Gesicht, und schließlich hatte er auch Schädel und Rücken in den Boden zurückgezogen. Wenngleich er nicht ganz so tief steckte wie er es sich wünschte, bot der Sand ringsum ihm doch einen nicht unwesentlichen Schutz. Vor allem verhinderte er, dass Zot herumgeschleudert wurde. Auf diese Weise konnte er das Ende des Unwetters abwarten - sofern es nicht so lange dauerte, dass der Luftmangel ihn vorher zurück an die Oberfläche zwang.


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Selbst durch die dicke Sandschicht und seine dicken Hautlappen hindurch drangen die Geräusche des Sturms an Zots kleine Ohren. Das Wetter tobte, wie er es noch selten in seinen zehn Lebensjahren erlebt hatte. Erst beinahe drei Stunden nachdem er sich im Sand vergraben hatte, schwächte sich das Unwetter ab. Nun wurde es höchste Zeit für ihn, sich auszugraben: Viel länger konnte er den Atem nicht anhalten, zumal er ja auch Energie brauchte, um sich zu befreien. Lange durfte er nicht mehr warten. Vor allem, weil er befürchtete, der Sturm könnte wieder stärker werden: In diesem Fall bekam man draußen kaum mehr Luft als drinnen, so dass es langsam gefährlich wurde. Er verlor also keine Zeit und begann damit, sich mit langsamen Bewegungen aus dem dichten, kühlen Schutzschild auszuwühlen.

Nach einigen Minuten bewegte sich die Sandoberfläche über ihm. Dann wölbte sich ein kleiner Hügel auf. Als dieser schließlich aufplatzte, kam erst Zots Nacken zum Vorschein, dann sein gewölbter Kopf und schließlich die große Nase. Nie Nüstern öffneten sich nur einen Spalt breit und sogen die staubgeschwängerte Luft ein. Noch immer stürmte es ringsum und der Wind blies Sandwolken vor sich her, doch hatte sich das Wetter so weit abgeschwächt, dass man gefahrlos nach draußen kommen konnte - sofern man so gut angepasst war wie ein Kitonak.

Nun war aus einer respektgebietenden Naturgewalt wieder ein alltägliches Ärgernis geworden. Nicht einmal gegen den Wind stemmen musste man sich mehr. Wenn man sich vorsichtig bewegte, und das war für Kitonaks der Normalzustand, konnte man sich auch von der Stelle bewegen. Zot nutzte diese Gelegenheit, um nach seinen Verwandten und Stammesmitgliedern zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis er die ersten antraf. Er war nicht der einzige, der sich schon ausgegraben hatte. Mit wenigen Worten vergewisserten sie sich gegenseitig, dass es den anderen gut ging, dann machten sie sich daran, anderen beim Auswühlen zu helfen.


Nach ungefähr einer halben Stunde war auch der letzte aus dem Sand befreit. Zu ihrer Freude stellten die Kitonaks fest, dass es allen gut ging. Der eine oder andere hatte zwar Schrammen von umerfliegenden Steinbrocken davongetragen, aber niemand war ernsthaft verletzt. Und, dem kosmischen Ei sei Dank, auch keines der Kinder war verlorgen gegangen. Dies war die größte Sorge der Erwachsenen gewesen, denn ein Sturm von dieser Stärke konnte den Nachwuchs so weit von ihnen forttragen, dass sie ihn in selbst nach Tagen nicht erreichen geschweige denn wiederfinden konnten. Für ein unselbständiges Kind bedeutete so etwas das Todesurteil. Doch sie hatten Glück gehabt. Zumindest in dieser Hinsicht. Aus einer anderen Warte betrachtet, gab das Unwetter ihnen Grund zur Sorge.

Der Häuptling Ra'ar veranlasste, dass sie sich sammelten. Der staubige Wind blies immernoch um sie herum, als sie sich gemächlich um den Anführer scharten und auf den Boden hockten. Ra'ar selbst setzte sich ebenfalls und schwieg eine Weile, bis er sich die passenden Worte zurechtgelegt hatte.


»Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals so kurz nach der Regenzeit einen solchen Sandsturm gab«, begann er. Er sprach die Worte langsam und mit Bedacht aus. Seine kräftige Stimme war über das Geräusch des Windes hinweg gut zu verstehen. »Ich befürchte, dass dies das verfrühte Ende unseres Wohlstandes bedeutet.«

Diese Nachricht brachte die Kitonaks nicht sichtbar aus der Ruhe, aber innerlich beunruhigt waren sie alle. Nur wenige wechselten leise das eine oder andere Wort, die meisten blickten zu den anderen Alten, die allesamt zur Bestätigung von Ra'ars Worten nickten.

»Der Sturm hat mit Sicherheit die Reste der Regenpflanzen vernichtet und auch die Sulfaru dezimiert«, fuhr der weise Anführer fort. »Die Choobas werden in dieser Gegend nun weniger Nahrung finden und sich nicht mehr so stark vermehren. Und wie immer werden wir ihr Schicksal teilen. Wir werden weitere Strecken wandern müssen und dennoch weniger zu Essen haben.«

Besorgt blickte Zot zu seiner Mutter und dem kleinen Kind, das sich an ihre Schulter klammerte. Seine Schwester hatte ihren ersten Sturm gut überstanden, aber wenn Ra'ars Worte zutrafen (woran es kaum einen Zweifel geben konnte), würde er schwere Folgen für sie haben.

»Wir wussten alle, dass es nicht ewig so bleiben würde«, sagte Zots Mutter, nachdem sie sich ein Weilchen angeschwiegen hatten. »Aber alle haben natürlich gehofft, dass die gute Zeit länger anhält. Wenigstens das erste halbe Jahr, bis die Kleinen etwas kräftiger sind.«

Ein Außenstehender hätte sie wohl für ruhig und gelassen gehalten, aber Zot hatte seine Mutter noch nie so besorgt gesehen wie in diesem Augenblick. Auch er sorgte sich um die Zukunft des Stammes. Sie hatten schon öfter harte Zeiten erlebt, aber niemals hatten sie dabei so viele hungrige Mäuler zu stopfen gehabt.

»Noch gibt es keinen Grund zur Unruhe«, sagte der Häuptling. »Wir alle haben erst kürzlich gegessen. Bis wir wieder hungrig werden, wird sich das Wetter längst gebessert haben und wir können nachsehen, wie es um die Choobas steht. Erst dann werden wir entscheiden, was zu tun ist. Zot, was glaubst du wie lange der Wind noch anhalten wird?«

Der junge Nomade schwieg überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Anführer ausgerechnet ihn nach seiner Meinung fragen würde. Ihm wurde erst jetzt bewusst, welches Ansehen sein außergewöhnliches Gespür für das Wetter ihm bereits eingetragen hatte. Gründlich überlegte er seine Antwort und die anderen Kitonaks warteten geduldig, bis er schließlich sprach:

»Ich denke nicht, dass es bald aufhören wird. Vielleicht wird es sogar wieder stärker. Zwei tage wird es bestimmt noch wehen, vielleicht auch drei.«

Er hatte keinen Beweis für diese Behauptung, nur ein Gefühl, das er nicht begründen konnte. Aber die anderen verlangten dies auch nicht von ihm. Ra'ar nickte bedächtig und ordnete dann an:

»Sucht nun alle eure Ausrüstung zusammen und seht nach, was noch verwendbar und was verloren ist. Wir müssen die wichtigsten Dinge tiefer vergraben, vor allem das Wasser. Hütet es gut, denn wenn Zot recht behält und der Wind anhält, wird es in wenigen Tagen keine offenen Wasserlöcher mehr geben. Aber wir werden diese Schwierigkeiten durchstehen wie viele andere zuvor. Wenn das Wetter es zulässt, werden wir uns heute wie gewohnt zum Erzählen der Geschichte versammeln.«

Ohne dass er es explizit erklären musste, wussten die Kitonaks, dass die Versammlung zu Ende war. Sie erhoben sich und trotteten davon, um nach ihren Besitztümern zu graben. Einfach war es nicht, denn der Orkan hatte die Landschaft umgestaltet. Nicht mehr jeder Felsbrocken lag dort, wo er vorher gewesen war. Manche waren unter kleinen Dünen verschwunden, die vorher nicht existiert hatten, und andere waren erst vom Wind aus dem Boden gegraben worden. Aber nach und nach fanden sie das meiste, was sie verbuddelt hatten, und auch Zot nahm sein Bündel wieder an sich - nur um es erneut im Sand zu verscharren, diesmal jedoch noch deutlich tiefer als zuvor.

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In dieser Nacht kamen sie nicht zum Erzählen der Geschichte zusammen. Und auch in der nächsten und übernächsten nicht. Denn wie befürchtet war auf den ersten Sturm ein zweiter gefolgt. Dieser war nicht ganz so heftig, so dass die Kitonaks darauf verzichten konnten, sich in den Sand einzugraben. Dafür erwies er sich aber als ungewöhnlich hartnäckig und langwierig. Dank seines guten Gespürs für Wetteränderungen wusste Zot zumeist schon eine Weile im Voraus, wann ein Sturm endete, doch diesmal hatte er zwei Tage lang eher das Gefühl gehabt, dass er niemals aufhören würde. Zugleich war ihm ebenso wie allen anderen erwachsenen Stammesmitgliedern bewusst, dass das Unwetter mit jeder weiteren Stunde die Choobas und deren Nahrung weiter dezimieren und die Versorgungslage verschlechtern würde. Selbst für die Geduld eines Kitonak war dies eine Herausforderung.

Doch es gab ja keine Alternative zum Warten. Solange man vollauf damit beschäftigt war, auf den Beinen zu bleiben und dabei noch zu verhindern, dass die kleinen Kinder und die Besitztümer des Stammes weggeweht wurden, konnte man ohnehin nichts Anderes tun. So trotzten die Nomaden weitgehend schweigend und stoisch der Naturgewalt, bis sie am Morgen des dritten Tages endlich abflaute. Bald legte sich der aufgewirbelte Sand und der wolkenlose Himmel wurde sichtbar. Die Luft würde noch tagelang rötlich trübe sein von dem Staub, der in den oberen Atmosphärenschichten hing.

Sofort als klar war, dass das Unwetter ausgestanden war, wurden Kundschafter ausgeschickt. Sechs Gruppen aus jeweils zwei Kitonaks brachen auf, um die Gegend zu erkunden und herauszufinden, wie groß der Schaden an Flora und Fauna war. Insbesondere nach den lebenswichtigen Choobas sollten sie Ausschau halten. Zot ging gemeinsam mit seinem gleichaltrigen Freund Narg nach Südosten. Natürlich in langsamen, behäbigen Schritten, die nur nach den ungewöhnlichen Maßstäben der Kitonaks als rasches Marschtempo gelten konnten. So dauerte es vergleichsweise lang, bis sie den nächsten Dünenkamm erreichten und eine bessere Aussicht auf die Umgebung hatten.

Da sie nicht wussten, wie die Landschaft vor dem Sturm ausgesehen hatte, konnten sie nicht beurteilen, wie drastisch sie verändert worden war. Aber sie erkannten, dass die Auswirkungen für das Leben des Stammes beträchtlich sein mussten. Denn das Land vor ihnen wirkte so karg und verheert, wie man es seit dem Regen nicht mehr gesehen hatte.


»Ich sehe keine einzige Pflanze«, sagte Narg nach einer Weile gedehnt. »Du etwa?«

Zot ließ seinen Blick nochmals über die Wüstenlandschaft schweifen, um keine unüberlegte Antwort zu geben. Doch so sehr er sich auch konzentrierte, er entdeckte nichts.

»Überhaupt nichts«, antwortete er mit behäbigem Kopfschütteln. »Lass uns weiter gehen. Bis zu den Felsen dort unten.«

Sie stapften auf der gegenüberliegenden Seite die Düne wieder herab - eine mächtige Düne, die vor ein paar Tagen noch nicht hier gewesen war. Ihre großen Füße verhinderten, dass sie in dem lockeren Material einsanken, jedoch nicht, dass sie immer wieder ins Rutschen kamen. Einmal glitt Zot aus und fiel hin, wobei er zu langsam reagierte, um sich abzufangen. Nach einer kurzen unfreiwilligen Rutschpartie kam er wieder auf die Beine.

»Der Sturm wird auch frische Fließsandgruben angelegt haben«, sagte er im Gehen, als er eine Weile auf diesem Einfall herumgedacht hatte. »Wir müssen besonders vorsichtig sein, Narg

Nun erst wurde Zot bewusst, wie unüblich es war, dass man zwei junge Erwachsene gemeinsam auf Erkundung schickte. Normalerweise war zumindest ein Älterer dabei. Da er genug Zeit hatte, darüber nachzudenken, fand der Nomade zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Wahrscheinlich fand man, dass es an der Zeit war, den Jungen generell mehr Verantwortung zu geben. Oder aber man hielt es in Ausblick auf härtere Zeiten für angebracht, sie zu mehr Eigenständigkeit zu erziehen. Immerhin konnte es leicht passieren, dass einer von ihnen sich plötzlich ganz alleine in der Wüste zurecht finden musste. Doch noch war es zu früh für Zot, um diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.

[Kirdo-System | Kirdo III | Sand- und Felswüste | auf Erkundung] Zot, Narg
 
[Kirdo-System | Kirdo III | Sand- und Felswüste | Fuß einer Düne] Zot

Wie wohl begründet Zots Warnung vor Fließsand gewesen war, stellten die beiden jungen Kitonaks auf halber Strecke von der Düne zu der Felsgruppe fest, die sie sich als Ziel gesetzt hatten. Mit jedem Schritt wurde der Sand unter ihren Füßen leichter, bis er schließlich eine fast flüssige Konsistenz annahm. Die Nomaden wussten die Zeichen zu deuten und gingen nun vorsichtiger (und noch langsamer) voran als zuvor. Die Bodenvertiefung, in der sich besonders feine Staubpartikel abgelagert hatten, schien flach abzufallen, aber das war durch die undurchsichtige Masse hindurch natürlich schwer zu beurteilen; nur ihre Fußsohlen gaben ihnen Aufschluss. Es war riskant, weiterzugehen, das wussten sie beide. Treibsand gehörte zu den größten Gefahren, denen die Kitonaks auf ihren Wanderungen begegnen konnten, und sie alle fürchteten ihn.

Minutenlang standen Zot und Narg schweigend bis zu den Knöcheln in der feinpulvrigen Substanz und überlegten, wie sie weiter vorgehen wollten. Nach einer Weile sagte Narg in der typisch gedehnten Weise:


»Die Senke scheint sehr seicht zu sein. Vielleicht ist sie nicht sehr breit und wir haben gleich wieder festen Grund unter den Füßen. Wir sollten vorsichtig weiter gehen.«

Zum Glück war er nicht besonders hastig veranlagt, so dass er sich nicht sofort in Bewegung setzte, sondern geduldig abwartete, bis die Antwort kam. Es dauerte eine Weile, bis Zot sichtbar reagierte. Gründlich ließ dieser sich die Worte seines Freundes durch den Kopf gegen. Objektiv gesehen hatte Narg vermutlich Recht. Sie ließen sich von etwas aufhalten, das womöglich gar kein nennenswertes Hindernis war. Sie waren zu zweit - wenn sie entsprechend vorsichtig vorgingen, konnte nicht allzu viel passieren.

Aber dennoch...


»Ich habe kein gutes Gefühl dabei«, sagte Zot ruhig, aber bestimmt.

Die Antwort war ziemlich vage, sie klang nicht ansatzweise so durchdacht wie das meiste, das ein Kitonak für gewöhnlich äußerte. Aber der Zehnjährige hatte lange genug nach einer passenderen Formulierung gesucht, um zu wissen, dass er sie nicht finden würde. Es war tatsächlich nur ein Gefühl, das ihn davon abhielt, tiefer in die Grube hineinzuwaten.


»Wir sollten das Risiko nicht eingehen. Es ist zu gefährlich.«

Wieder schwiegen sie und schauten auf die glatte, orangegelbe Fläche vor ihren Füßen. Nichts deutete auf eine Gefahr hin. Es gab auch keine Bewegung im Sand, die als Indiz dafür dienen konnte, dass etwas darin lauerte - was auf Kirdo III durchaus passieren konnte.

»Von welcher Art von Gefahr sprichst du?« wollte Narg wissen.

»Ich weiß es nicht. Aber je länger ich darüber nachdenke, um so sicherer werde ich, dass von dieser Senke Gefahr ausgeht. Lass uns einen anderen Weg suchen.«

Er wusste, dass er viel von seinem gleichaltrigen Freund verlangte. Sein Gefühl war zu vage, um es in Worte zu fassen, die man als vernünftige Grundlage für eine objektive Entscheidung heranziehen konnte. Aber es war stark, hatte den Anstrich des Grauens. Zot wusste, dass es Unglück nach sich ziehen würde, wenn sie ihren Weg in diese Richtung fortsetzten. Aber begründen konnte er das nicht. Ein feiner Zug von Skepsis stand in Nargs Gesicht geschrieben und er zog die dicken Hautfalten vor den Augen etwas weiter auseinander, um noch genauer beobachten zu können.

»Also gut«, sagte er nach einer Weile. »Lass uns noch eine Stunde oder zwei nach Süden gehen. Von diesem Hügel dort haben wir bestimmt eine gute Aussicht.«

Während sie in die bezeichnete Richtung stapften, wandte Zot sich noch einmal um und warf einen Blick zurück auf das Fließsandfeld. Noch immer gab es kein Anzeichen dafür, dass ein gefährlich tiefer Graben, ein Raubtier oder sonst eine ernsthafte Gefahr darin lauerte. Er wusste nicht, was ihn davon abgehalten hatte, die Grube mutig zu durchschreiten. Vielleicht war er einfach ängstlicher veranlagt als Narg.

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[Kirdo-System | Kirdo III | Sand- und Felswüste | Hügel] Zot

Vom Scheitelpunkt des sandigen Hügels aus konnten die beiden Nomaden weit über das Land sehen. Doch bot sich ihnen kein anderer Anblick als von der letzten Düne aus. Die Wüste war karger und unwirtlicher denn je. Bis zum Horizont deutete nichts darauf hin, dass sie noch vor kurzem üppig ergrünt war. Was von der Regenvegetation noch übrig geblieben war und noch für Monate einen gewissen Wohlstand bringen sollte, war vom Sturm entwurzelt, vortgeweht und unter Tonnen von Sand licht- und luftdicht vergraben worden. Keine Sulfaro waren sichtbar und auch keine frischen Chooba-Spuren. Nur rötlich-gelber Sand, so weit das Auge reichte.

Ernüchtert machten sich die Kitonaks auf den Rückweg. Ihr Bericht war wichtig, auch wenn er nichts Gutes beinhaltete. Es dauerte mehrere Stunden, bis sie die wenigen Kilometer bis zum Lager ihres Stammes zurückgelegt hatten, und die Sonne senkte sich im Westen bereits über die Dünen. Auch die anderen Trupps, die in unterschiedliche Richtungen aufgebrochen waren, waren bereits zurückgekehrt oder trafen kurz nach ihnen ein.

Als die Dunkelheit hereinbrach, versammelte sich der ganze Stamm. Wie üblich entfachten sie kein Feuer, es mangelte auf Kirdo III fast ständig an Brennstoff und sie konnten außerdem mit der hereinbrechenden Nachtkälte auch ohne Hilfsmittel gut fertig werden. Sie bildeten einen mehrreihigen Kreis und setzten oder hockten sich in den Sand. Den innersten Ring bildeten der Häuptling und die Ältesten. Die Kundschafter, also auch Zot und Narg, saßen in ihrer unmittelbaren Nähe. Und wie immer hatte der junge Kitonak auch die Nähe seiner Mutter und Schwester gesucht.

Nacheinander berichteten die Trupps von dem, was sie in der Wüste gesehen hatten. Es zeichnete sich dabei ein klares Bild, dessen Wahrheit mit jedem Bericht ununstößlicher wurde. Zot und Narg kamen um einen ausführlichen Bericht herum: Als sie an der Reihe waren, fragte der Häuptling nur noch, ob sie etwas anderes beobachtet hatten als ihre Vorredner, was sich mit einem Kopfschütteln leicht beantworten ließ.


Häuptling Ra'ar erhob sich nun langsam aus seiner sitzenden Haltung und sprach zum ganzen versammelten Stamm:

»Ihr habt nun gehört, dass unsere schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheiten. Offenbar ist das Land in weitem Umfeld verwüstet worden, auf viele Tagesreisen nach allen Richtungen.« Er hielt inne und schaute sich eine ganze Weile in der Runde um, blickte vielen in die Gesichter. Auf Zot verharrte sein Blick etwas länger. »Auf uns kommen harte Zeiten zu. Wir müssen entscheiden, wie wir diesen begegnen wollen. Nicht jetzt und nicht heute, denn so etwas will in Ruhe überlegt sein. Dank Elko und Gaar wissen wir, in welche Richtung die verbliebenen Choobas ziehen. Morgen werden wir ihnen folgen. Und dabei werden wir darüber nachdenken, wie wir der Lage Herr werden können.

Nun lasst uns den Rest der Nacht damit zubringen, die Geschichte zu erzählen. Gron hatte zuletzt das Wort. Wer will fortfahren?«


Tage war es her, dass sie zuletzt erzählt und gelauscht hatten. Noch immer waren einige Stränge der Geschichte, die vor dreizehn Nächten begonnen worden war, ungelöst. Nur einige Stunden blieben bis zum Sonnenaufgang; wenig Zeit für ein so bedächtiges Volk. Und dennoch lösten sich die offenen Fragen schnell, alles fügte sich zu einem Ganzen. Niemand hatte das Bedürfnis, der Erzählung weitere Aspekte und Figuren hinzuzufügen, so dass diese ungewöhnlich lange Geschichte nun zu ihrem Ende kam: Einem glücklichen und zufriedenstellenden Ende, auf das die Handlung schon lange hingearbeitet hatte. Die schwierige Lage, in welcher sich der Stamm befand, hatte die Erzähler nicht dazu veranlasst, das Schicksal ihrer Figuren ins Negative kippen zu lassen.

Als die ersten Sonnenstrahlen über den Hügeln erschienen, dachten die Stammesmitglieder noch über das nach, das sie gemeinsam ersonnen und angehört hatten. Zot wusste, dass die Handlung der Geschichte frei erfunden war und höchstens ganz entfernt auf Tatsachen beruhte. Aber er wusste auch, dass sie den Gedanken, Erinnerungen und Erfahrungen so vieler, teils alter und weiser Kitonaks entsprungen war und daher stets auch lehrreich sein konnte. Und wenn diese Geschichte ihn eines lehen konnte, dann, dass alles sich zum Guten wenden konnte, wenn das Kosmische Ei mit den Sterblichen war. Aber dafür galt es stets auch Leid zu ertragen und schwere Entscheidungen zu treffen. Er selbst hatte eine Entscheidung vor sich, wie sie schwerer kaum sein konnte. Doch wie sie ausfallen würde, das wusste er noch nicht. Ra'ar hatte Recht: Man durfte so folgenschwere Überlegungen nicht übers Knie brechen.


[Kirdo-System | Kirdo III | Sand- und Felswüste | Lager eines Kitonak-Stammes] Zot
 
[Kirdo-System | Kirdo III | Sand- und Felswüste | Wanderweg eines Kitonak-Stammes] Zot

Den ganzen nächsten Tag hindurch wanderten die Kitonaks durch die vom Sturm umgestaltete Wüste, auf den Spuren der stark dezimierten Chooba-Herde. Es waren nur wenige Tiere übrig. Zwar blieb noch die Hoffnung, dass die Herde nur zerstreut worden war und wieder zueinander fand, aber das war keine echte Aussicht. Der Wind, der den Nomaden entgegenblies, trug die Witterung der Chooba-Schnecken, doch war diese nicht sehr ausgeprägt, und auch die Fährten im Sand rochen nur schwach an ihren Füßen. Sie wanderten ungewöhnlich schnell: Vermutlich wussten sie instinktiv, dass auch sie nun um so weiter wandern mussten, um ihren Hunger zu stillen. Hier, wo der Orkan am heftigsten gewütet hatte, war nicht einmal Pflanzenbewuchs geblieben, um die stark ausgedünnte Herde zu ernähren. Diesen Tieren hatte der Sturm viel unmittelbareren Schaden zugefügt als den Kitonaks. Doch die enge Verbindung zwischen den Jägern und ihrer Beute machte es unausweichlich, dass deren Mangel auch ihrer werden musste.

Mit jedem stapfenden Schritt durch die teils felsige, teils sandige Landschaft dachten die Nomaden über ihre Zukunft nach. Auch Zot wälzte diese schweren Gedanken hin und her. Sie alle mussten Konsequenzen ziehen. Mussten Wasser und Nahrung rationieren, darüber nachdenken, die Marschrichtung zu wechseln und nach anderen Chooba-Herden Ausschau zu halten. Doch für die jungen Erwachsenen gab es noch eine andere Entscheidung zu treffen, eine um so schwerwiegendere. Und je länger er darüber nachdachte, um so sicherer wurde er, dass er handeln musste.

In dieser Nacht hörte Zot der Geschichte nicht richtig zu. Einige Details entgingen ihm, weil er sich noch immer mit seiner allesentscheidenden Frage trug. Immerhin so viel bekam er mit, dass seine Vermutung sich bestätigte: Die neue Erzählung hatte einen etwas düstereren Anstrich als die vorangegangene.

Der nächste Tag verging ebenso wie der vorherige. Die einzige Abwechslung war das Auffinden eines Wasserloches, doch war dieses so mit Sand zugeweht, dass man seinen Inhalt kaum noch als feucht, geschweige denn als nass bezeichnen konnte. Mit ihren großen Händen schaufelten die Kitonaks die schlammige Masse aus dem Boden, füllten sie in Tücher und saugten die Feuchtigkeit aus diesen heraus. Viel kam nicht dabei heraus, aber jeder Tropfen war kostbar und würde sie am Leben erhalten. Insbesondere die Jüngsten wurden mit einer Extraration bedacht, denn sie waren gegen die Widrigkeiten der Wüste noch nicht so gut gewappnet wie ihre Eltern und Großeltern. Danach ging es wieder weiter. Die Choobas änderten ihre Richtung, der Stamm marschierte ihnen hinterher nach Nordwesten.

Am Abend, als sich die Kitonaks wieder versammelten, um ihrem gemeinsamen Ritual zu folgen, erhob sich Zot und trat vor sie. Die unbewegten Gesichter und Haltungen verrieten nicht einen Hauch von Spannung, doch sie alle wollten wissen, was einer ihrer Jüngsten ihnen so Wichtiges zu sagen hatte. Der eine oder andere konnte es sich wohl schon denken. Der Zehnjährige blickte ihnen eine Weile in die Gesichter, ließ allen Zeit, den Augenblick auf sich wirken zu lassen und sich ihre Gedanken dazu zu machen. Dann sprach er, mit wohl gewählten Worten und deutlich vernehmbar:


»Wir alle kennen die Situation, in der wir uns befinden. Ra'ar hat natürlich Recht, wenn er sagt, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Das galt auch für mich. Ich habe lange nachgedacht, bevor ich mich zu diesem Schritt entschlossen habe.«

Er pausierte einige Augenblicke und holte Luft. Noch ein letztes Mal ließ er sich die Sache durch den Kopf gehen. Doch keine neuen Zweifel kamen auf. Es war das einzig Richtige.

»Ihr alle habt mich die Bräuche unseres Volkes gelehrt und ich respektiere sie. In solchen Zeiten, in denen die Versorgung des Stammes nicht mehr sichergestellt ist, sollen die jungen Erwachsenen auf Wanderschaft gehen. Ich habe das richtige Alter und verstehe mich auf das Überleben in der Wildnis. Auch habe ich erst vor wenigen Tagen gegessen und bin bei Kräften. Morgen werde ich alles für den Aufbruch vorbereiten.«

Wie erwartet, bestand die Reaktion auf diese Eröffnung in weiterem nachdenklichem Schweigen. Wirklich überrascht war niemand - dennoch wirkte die große Tragweite dieser Nachricht auf sie. Jeder im Stamm kannte Zot von seinem ersten Lebenstag an, er war ein Teil ihrer Gemeinschaft und dank seiner großen Talente trotz des jungen Alters geachtet. Wenn er den Stamm verließ, dann bedeutete dies, dass sie sich vermutlich niemals wiedersehen würden. Er musste so lange alleine überleben, bis er Anschluss an eine andere Gruppe fand. Und seine Freunde und Verwandten würden wahrscheinlich nie erfahren, ob ihm dies gelang oder er einer der Gefahren der Wüste zum Opfer fiel.

Nach einer Weile stand der Häuptling auf und trat zu Zot.


»Deine Entscheidung ist mutig«, sprach Ra'ar. »Wir akzeptieren und achten sie, und wir danken dir dafür, dass du dem Stamm diesen selbstlosen Dienst erweist. Ich hoffe sehr, dass du der einzige sein wirst, der in diesen Zeiten von uns Abschied nehmen muss und dir nicht zu viele Andere folgen werden.

Sprich zuvor mit denjenigen, die selbst einmal auf Wanderschaft waren. Ihre Erfahrungen können wertvoll für dich sein. Schwierigkeiten und Gefahren liegen vor dir. Aber ich bin überzeugt davon, dass kein anderer so gut wie du für die Aufgabe gewappnet ist.«


Die Kitonaks nickten ihre Zustimmung.

Zot neigte respektvoll das Haupt vor dem Ältesten. Dann setzte er sich an seinen Platz zurück. Jetzt, da die Entscheidung gefällt und ausgesprochen war, gab es keinen Zweifel mehr in ihm. Der Weg lag nun klar vor ihm.

Doch während er annahm, dass alles zu der Angelegenheit gesagt war, wandte seine Mutter sich ihm zu und sprach leise mit trauriger Stimme:


»Ich wusste, dass du so entscheiden würdest. Und auch dass du es heute verkündest. Aber ich wünschte, du hättest zuerst mit mir darüber gesprochen.«

In nachdemklichem Schweigen verharrte Zot. Diese Worte musste er zunächst verdauen. Und das konnte leicht bis zum Morgen dauern.

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Bereits am nächsten Tag machte sich Zot für den Aufbruch bereit. Nun, da die schwere Entscheidung gefällt war, sah er keinen Grund, die Angelegenheit unnötig zu verzögern. Er konnte sehr zielstrebig sein, wenn er sich seiner Sache einmal sicher war. Und hier gab es kein Zurück. Es diente dem Wohl des Stammes, dass er ging. Dieses musste er über sein eigenes stellen. So war es immer gewesen, seit die Kitonaks durch die Wüsten von Kirdo III wanderten. Niemals hätte der Zehnjährige die Richtigkeit dieser Tradition in Frage gestellt.

Sorgen um seine nähere Zukunft machte Zot sich eigentlich nicht. Er fühlte sich den Gefahren, die vor ihm lagen, eigentlich recht gut gewachsen. Er kannte die Wüste und wusste, wovor er sich in Acht nehmen musste, er kannte die Anzeichen für Vegetation, unterirdische Wasserlöcher, Fließsand und gefährliche Raubtiere. Er sah sich sehr wohl imstande, eine Weile alleine zu überleben. Aber das Überleben allein konnte nicht alles sein. Was ihm Sorge machte, war die ungewisse Zukunft, der er entgegenging. Es konnte lange, sehr lange dauern, bis er einen anderen Stamm fand, der bereit war, ihn aufzunehmen. Vielleicht musste er monate- oder jahrelang allein sein. Und das war etwas, woran er nicht gewohnt war. Noch nie war er einsam gewesen, die Vorstellung daran erschreckte ihn ein wenig. Aber in seine Überlegungen hatte er diesen Umstand natürlich mit einbezogen. Er wusste worauf er sich einließ, soweit er es eben wissen konnte.

Während der Stamm weiter wanderte, suchte Zot die Nähe der Kitonaks, die früher selbst als Wanderer durch die Wüste gezogen waren, bis sie zu dieser Gruppe gestoßen waren. Drei waren es, allesamt schon recht betagt, aber die Erinnerungen an diese Zeit waren noch frisch. Sie gaben ihm Hinweise darauf, was ihn erwartete, und bestätigten dabei, dass er sich nicht auf eine kurze Episode einzustellen hatte. Bei Gamu hatte es über ein Jahr gedauert, bis er zu Zots Sippe gestoßen war. Die zwei Männer und eine Frau hatten auch den einen oder anderen guten Ratschlag für ihn, die er sicherlich beherzigen würde.

Insbesondere rieten sie ihm alle, seine Chidinkalu-Flöte mitzunehmen und als seinen größten Schatz zu hüten. Denn, darin waren sie sich einig, das Alleinsein war während der Nachtstunden am größten, und das gemeinsame Erzählend er Geschichte am schwersten zu entbehren. Die Musik konnte die Einsamkeit vertreiben und diente zudem dazu, andere Kitonaks aufmerksam zu machen. Zumindest einer von ihnen hätte das Lager von Zots Stamm um wenige Dutzend Schritte verfehlt, wenn seine Flötentöne nicht den Kontakt hergestellt hätten.

Da die Gespräche trotz der wenigen Worte, die insgesamt gemacht wurden, nur langsam voran gingen und die Kitonaks sich gegenseitig häufig anschwiegen, manchmal minutenlang, war der Mittag lange vorbei, als Zot den Rat der drei ehemaligen Wanderer eingeholt hatte. Doch noch blieben einige Stunden Helligkeit, bevor der Stamm wieder sein Nachtlager aufschlug. Der junge Nomade nutzte daher die Gelegenheit, auch noch mit der alten Eru zu sprechen. Sie war zwar nicht auf Wanderschaft gewesen, aber auch sie hatte eine Weile von anderen Mitgliedern ihres Volkes getrennt gelebt - als Sklavin auf einem anderen Planeten, ein Umstand, den sich Zot noch immer nicht vorstellen konnte. Auch sie befragte er nach nützlichen Ratschlägen für seine Wanderung.


»Hüte dich vor den Fremdweltlern«, war das Fazit, das die alte Kitonak nach einigen Erzählungen zog. »Sie sind bei weitem nicht alle schlecht. Aber diejenigen, die unsere Welt besuchen, haben oft nichts Gutes im Sinn. Kirdo ist für Sklavenfänger interessanter als für ehrliche Händler und für die meisten anderen gar völlig uninteressant. Solltest du dort draußen auf eines der hastigen Wesen treffen, nimm dich in Acht und schenke ihm nicht leichtfertig dein Vertrauen.«

Auch diesen Rat wollte Zot in jedem Fall beherzigen. Auch wenn er die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Wüste auf ein Lebewesen von einem anderen Stern traf, eher gering einschätzte. In seinen zehn Lebensjahren hatte er keines gesehen - warum also sollte dies ausgerechnet in den nächsten Wochen und Monaten geschehen?

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Der Abschied von seinem Stamm fiel Zot recht schwer, doch ließ er sich von den aufwallenden Gefühlen nicht in seinem Entschluss irre machen. Er bemühte sich, die Sache zügig über die Bühne zu bringen. Das bedeutete aber nicht, dass er in ungewöhnliche Eile verfilel. Nur ersparte er sich und anderen unnötige Worte, wo Schweigen und ein kräftiger Händedruck oder eine Umarmung ebenso viel sagen konnten.

Die Kitonaks blieben allesamt äußerlich ruhig und gemächlich während dieses Vorgangs, der nicht nur für den jungen Wanderer, sondern auch für den ganzen Stamm überaus einschneidend war. Teilweise waren sie innerlich aber doch vergleichsweise aufgewühlt. Besonders Zots Abschied von seiner Mutter und einigen nahen Verwandten sowie seinem besten Freund Narg fiel sehr herzlich aus. Außerdem der von der ebenfalls zehnjährigen jungen Frau, die in weiteren zehn Jahren, bei der nächsten Regenzeit, womöglich sein Kind zur Welt bringen würde. Er würde es höchstwahrscheinlich niemals erfahren, denn dass sich nach der Trennung ihre Wege wieder kreuzten, war weder vorgesehen noch war es wahrscheinlich. Zot würde auch seine kleine Schwester nicht aufwachsen sehen. Nicht einmal ob sein Weggang dem Stamm wirklich einen Nutzen brachte, würde er erfahren. Dies war ihm längst bekannt, wurde ihm nun, in der Stunde des Abschieds, aber um so bewusster.

Drema fragte ihn noch einmal, ob er auch alles bei sich hatte. Es war die typisch überfürsorgliche Frage einer Mutter. Selbstverständlich hatte er alles - viel besaß und benötigte er ja nicht. Einen Umhang aus grob gewebten Pflanzenfasern, den Wanderstab aus einem langen Knochen, eine aus dem knolligen Trieb der Sulfaropflanze geschnitzte Wasserflasche, ein paar Werkzeuge und seine Chidinkalu-Flöte. Daher konnte er ihr guten Gewissens versichern, nichts vergessen zu haben. Er musste sich zwingen, sich umzuwenden. Noch nie in seinem Leben war er innerlich so hin und her gerissen gewesen wie in diesem Augenblick.

Während der Stamm nach Westsüdwest weiterzog, wandte Zot sich nach Osten. Auf diese Weise wollte er möglichst schnell eine große Distanz zwischen sich und seine Verwandten bringen, um nicht doch noch der Versuchung zu erliegen, zu ihnen zurückzukehren. Eine zufällige Begegnung wollte er ebenfalls ausschließen, denn ob er es noch einmal schaffen würde, ihnen den Rücken zuzudrehen, wusste er nicht. Entschlossen stapfte er im gewohnten Marschtempo der Kitonaks auf den Horizont zu. Erst nach drei Stunden wandte er sich um. Ein letztes Mal winkte er grüßend den Nachzüglern des Zuges, der langsam hinter einer Hügelkuppe verschwand. Weiter ging sein einsamer Marsch, während die Sonne sank und sein Schatten vor ihm länger wurde.


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Auch als es dunkel war, wanderte Zot noch eine Weile weiter. Während sich der Stamm auf seinen Wanderungen nach dem Tempo der Chooba-Schnecken richtete und daher keine Eile nötig hatte, musste er in kurzer Zeit größere Strecken zurücklegen. Denn der nächste Stamm konnte weit entfernt von hier auf Wanderschaft sein. Schon seit Wochen hatte seine Gruppe keine Anzeichen auf die Anwesenheit anderer Kitonaks gesehen. Je weiter er sich also von seinen Angehörigen entfernte, um so größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er die Wanderwege anderer Artgenossen kreuzte. Und um so schneller würde seine Wanderung enden. Er hoffte, dass er nicht mehr als drei oder vier Monate allein unterwegs sein musste.

Erst gegen Mitternacht machte Zot Rast. Er suchte sich eine windgeschützte Stelle zwischen zwei Hügelkämmen. Nachdem er sich versichert hatte, dass nicht auch gefährliche Raubtiere hier Halt gemacht hatten, richtete er sich für die Nacht ein. Er entfachte ein kleines Feuer aus dem getrockneten Kot von Tieren, den er unterwegs gesammelt hatte. Da er weder auf gegarte Nahrung noch auf die Wärme der Flammen angewiesen war, beschränkte sich der Nutzen derselben auf das heimelige Gefühl, das sie verbreiteten. Deshalb war es auch nicht nötig, dass er den kostbaren Brennstoff für schlechtere Zeiten rationierte.

Kitonaks benötigten beinahe keinen Schlaf, da ihr ganzer Körper auf größtmögliche Energieersparnis ausgelegt war. Die Nächte brachten sie stets mit dem Erzählen der Geschichte zu, einer Tradition, die wie keine andere ihren Zusammenhalt förderte und bestätigte. Manchmal, wie zuletzt während der Sturmnächte, hatten sie nicht die Gelegenheit dazu, sich zum Erzählen zu versammeln. Dies war jedoch das erste Mal, dass Zot darauf verzichten musste, weil er alleine war. Die Stille um ihn herum, die nur von den leisen Geräuschen des Windes und den gelegentlichen Lauten eines kleinen Tieres gestört wurde, machte ihm klar, worauf er sich eingelassen hatte. Wie die meisten Kitonaks war der junge Nomade ein sehr soziales Wesen. Nun jedoch beschlich ihn ein Gefühl der Einsamkeit, das immer stärker wurde.

Zot erinnerte sich an die Worte der Stammesbrüder und -schwestern, die er nach ihren eigenen einsamen Wanderungen befragt hatte. Sie hatten exakt das Gefühl geschildert, dem auch er sich jetzt ausgesetzt sah. Und sie hatten ihm auch gesagt, was der beste Weg war, damit fertig zu werden. Die Chidinkalu-Flöte, darin waren sie sich einig gewesen, war der beste Ersatz für das Erzählen der Geschichte, den er unterwegs finden konnte.

Der einsame Wanderer holte sein Instrument hervor und begann zu spielen. Mit einer Geschwindigkeit, die man einem so behäbigen Wesen niemals zugetraut hätte, huschten die breiten, klobig wirkenden Finger über die Löcher der Flöte und veränderten die Tonhöhe in rascher Folge. Er begann mit einer alten Volksweise, ging bald aber dazu über, so zu spielen, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Fröhliche und melancholische Melodien wechselten sich bis zum Morgengrauen ab.


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Neben der Wohltat für die Seele, welche die Musik darstellen konnte, gab es auch einen rationalen Grund dafür, dass Kitonak-Wanderer Nacht für Nacht ihre Flöte spielten. Die hellen Klänge der Chidinkalu waren in der Stille der nächtlichen Wüste meilenweit zu hören. Befanden sich Artgenossen in der Nähe, so war es sehr wahrscheinlich, dass sie auf die Töne aufmerksam wurden und diesen folgten, um herauszufinden, wo und wer ihre Quelle war. Es vermied, dass man sich bei der Wanderung haarscharf verfehlte; dies konnte insbesondere in unübersichtlicherem Gelände leicht passieren, mit etwas Pech im Abstand von nur wenigen Metern.

Aber in dieser Nacht lockte Zots Musik keine Kitonaks an. Ein anderes Wesen wurde aber im Morgengrauen auf ihn aufmerksam. Zuerst drang nur ein leises Geräusch an sein Ohr, das er zwar als Ruf eines Raubtiers identifizierte. Doch es war so fern, dass er sich zunächst kaum Sorgen machte. Eine Weile lauschte er in den anbrechenden Morgen hinein, aber der Laut wiederholte sich nicht. Der Laut war aus Richtung Norden gekommen, von wo ein kühler Wind wehte, doch trug dieser keinen verdächtigen Geruch zu ihm.

Und dennoch. Zot wusste, dass er in Gefahr schwebte. Und dass diese nahe war. Zu nahe, um noch irgend etwas zu unternehmen. Er tat das, was die meisten Kitonaks in einer solchen Situation taten: Weder lief er weg noch versteckte er sich, er tat einfach überhaupt nichts. Sein Körper erstarrte beinahe zur Salzsäule. Dicke Hautlappen schoben sich vor Augen, Ohren, Mund und Nase, verschlossen alle Körperöffnungen und schützten alle verletzbaren Organe. Es war die gleiche Schutzreaktion wie gegen einen Sandsturm und zugleich ein ähnlicher Tarneffekt wie bei der Jagd nach den Chooba-Schnecken: Zot ähnelte nun in verblüffender Weise einer Sulfaru-Pflanze. Blieb nur zu hoffen, dass das Tier - worum auch immer es sich handelte - auf die Mimese hineinfiel. Denn echte Alternativen gab es nicht. Zum Fliehen fehlte es dem Nomaden an Geschwindigkeit und zum Kämpfen an allen körperlichen Voraussetzungen.

Da all seine Sinnesorgane verschlossen waren, hielt sich Zot quasi in einem kleinen, abgeschotteten Raum im Innern seines Körpers auf. Er bekam nichts von dem mit, was draußen vor sich ging. Weder hörte noch sah er die Annäherung des Raubtiers. Aber ebenso wie bei der Lauer auf Choobas wusste er doch, dass es da war. Er fühlte die Gegenwart von etwas Großem, Gefährlichen.

Es pirschte sich an (aus der windabgewandten Seite; wie raffiniert, es hatte ihn umkreist!) und war schließlich so nah, dass es ihn beschnuppern konnte. Es suchte die sicher geglaubte Beute, sah aber nichts, das sich wie Beute verhielt. Das Ding, das aussah und roch wie eine Sulfaro-Pflanze, kam ihm jedoch verdächtig vor. Mit einer großen Pranke stieß es das Etwas vorsichtig an. Zot spürte die Berührung kaum durch die dicke Haut, obwohl die Krallen deutliche Kratzer hinterließen. Er bewegte sich nicht, atmete nicht und ließ auch sonst in keiner Weise bemerken, dass er zu mehr in der Lage war als nur herumzuvegetieren wie die Pflanze, die er imitierte. Das Raubtier wühlte kurz im Sand und beschnüffelte seine Ausrüstung, dann setzte es sich hin und wartete. Doch was Geduld anging, konnte es sich nicht mit einem Kitonak messen. Nach einer Weile zog es von dannen.

Zot wartete noch eine Stunde oder zwei, bevor er erst zu atmen wagte und sich dann wieder zu regen begann. Vorsichtig und langsam drehte er seinen Kopf von einer Seite auf die andere und spähte zwischen den Hautfalten hindurch mit winzigen Augen nach dem Feind. Dieser war jedoch verschwunden. Vorsichtig bückte der Kitonak sich nach seinen Besitztümern und sammelte sie ein, um seine Reise fortzusetzen. Er wollte diesen Ort rasch verlassen.

Das erste gefährliche Abenteuer seiner Wanderung hatte er heil überstanden. Auch wenn es wohl eine Weile dauern würde, bis die tiefen Schnitte, die zum Schutz gegen eindringenden Sand ebenfalls von Hautwulsten eingeschlossen wurden, vollends verschwunden sein würden.


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Auch an diesem Tag marschierte Zot zügiger, als er es von den üblichen Wanderungen seines Stammes gewohnt war. Solange er nicht ausschließen konnte, dass das Raubtier womöglich noch immer auf seiner Fährte war, ließ er außerdem besondere Vorsicht walten. In unregelmäßigen Abständen blieb er stehen, um den Blick über die Landschaft schweifen zu lassen und nach Anzeichen einer Gefahr zu suchen. Doch weder sah noch spürte er etwas. Alles schien in Ordnung zu sein.

Dennoch verzichtete der Kitonak in dieser Nacht darauf, seine Chidinkalu zu spielen. Damit vergab er sich eventuell eine Chance. Aber zugleich umging er eine Gefahr. Eine bewusste Entscheidung, über die er im Laufe des Tages gründlich nachgedacht hatte. Die Wahrscheinlichkeit, so nah beim Wanderweg seines Stammes - seines ehemaligen Stammes, musste es mittlerweile heißen - auf eine andere Gruppe zu treffen, war doch sehr gering. Leichter war es möglich, dass sich der Räuber noch in der Nähe befand und er ihn mit dem Flötenspiel abermals auf seine Fährte lockte. Zwar hatte er an diesem Tag bestimmt mehrere Kilometer geschafft, aber er wusste nicht genau, wie weit das Tier seine Beute zu verfolgen pflegte und wie gute Ohren es hatte.

Am nächsten Morgen zeigte sich ein eindrucksvolles Naturschauspiel am westlichen Horizont. Der Himmel erstrahlte in kräftigem, purpurrot bis orangefarbenem Morgenrot. Wolkenbildung gab es kaum in der Atmosphäre von Kitonak, außer in den Wochen vor der Regenzeit, wenn der Wassergehalt der oberen Luftschichten sich langsam bis an ihr Maximum steigerte. Dies hier waren jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit keine Dunst-, sondern Staubwolken. Während Zot sie betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass ein Wetterumschwung bevorstand.

Schon kurze Zeit später, es war noch nicht einmal Nachmittag, ereignete sich das Vorhergesagte. Der Wind frischte auf und steigerte sich, bis er Staubwolken vor sich her trieb. Er wehte von West nach Ost, im rechten Winkel zu Zots Wanderweg, der noch immer nach Norden führte. Das war ihm recht, denn auf diese Weise würde das Raubtier, sofern es nicht ohnehin längst aufgegeben hatte, bestimmt seine Spur verlieren. Er durfte sich wieder sicherer fühlen. Der Wind an sich störte ihn hingegen nicht. Das Gefühl von scharfkantigem Sand, der von Böen auf seine Haut gepeitscht wurde, empfand er sogar als angenehm.

Er war sich ziemlich sicher, dass diesmal kein solcher Sturm bevorstand wie vor einigen Tagen. Wahrscheinlicher war, dass dieses windige Wetter eine ganze Weile anhielt. Was ihm jetzt willkommen war, konnte dann leicht lästig werden. Das bedeutete nämlich vor allem schlechte Sicht und damit stark eingeschränkte Orientierung. Ohne die Sonne, die Sterne und die Form der Landschaft zu sehen, konnte Zot nicht genau bestimmen, wohin er wanderte. Die einzige Orientierungshilfe war der Wind selbst, doch als solche war er trügerisch, denn er konnte jederzeit unbemerkt seine Richtung wechseln und dadurch in die Irre führen. So konnte es leicht passieren, dass er im Kreis ging oder sogar den gleichen Weg zurück stapfte, den er gekommen war. Aber beunruhigen ließ sich der junge Nomade davon nicht. Immerhin hatte er sowieso kein konkretes Ziel vor Augen. Wohin es ihn verschlug, konnte ihm beinahe gleichgültig sein.

In dieser Nacht wagte er wieder, die hölzerne Flöte hervorzuholen, und pfiff mit dem Wind um die Wette.


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Zots Wettervorhersage erwies sich wieder einmal als richtig. Am nächsten und auch am übernächsten Tag machte der Wind noch immer keine Anstalten, sich abzuschwächen. Er konnte nur vermuten, dass dieser immernoch von West nach Ost wehte. Hatte er unbemerkt gedreht, so führte der Weg des Kitonak nun auch nicht mehr nach Norden. Aber das war nicht schlimm, da er ohnehin kein besonderes Ziel hatte. Konsequent und geduldig folgte er dem, was schon mittlerweile zum Alltag zu werden schien: Tagsüber wandern, nachts auf der Chidinkalu spielen. Bisher jedoch führte keines von beidem zu einer Begegnung mit anderen Nomaden. Die Wanderwege der einzelnen Gruppen lagen weit auseinander und kreuzten sich nur selten.

Während er vor sich hin stapfte, ebenso gemächlich wie unermüdlich einen seiner großen Füße vor den anderen setzend, bemerkte er, dass das Gelände sich veränderte. Der Boden wurde fester und anstelle von wellenförmigen Dünen schien es nun fast nur noch bergauf zu gehen. Große Steinbrocken, die er umgehen musste, häuften sich. Offenbar war er in den wenigen Tagen seit der Trennung von seiner Familie weiter gekommen, als er geglaubt hatte: Er hatte die Gebirgskette im Norden erreicht, an der sie vor einigen Wochen entlang gewandert waren, und marschierte nun wohl mitten in sie hinein.

Zot blieb stehen.

Zum ersten Mal seit seinem Aufbruch war es nicht ganz unwichtig, wohin er sich nun wandte. Das musste wohl überlegt sein. Das Gebirge war nicht das höchste auf Kirdo, aber es kostete einige Mühe, es zu überwinden. Man verirrte sich leicht in den ziemlich unwegsamen, von Wind und Sand zerklüfteten Felshängen. Kannte man sich aus (was für ihn nicht galt) oder fand man durch Zufall einen Pass, so konnte man rasch in der jenseitigen Ebene angelangen, die soweit er wusste vom beinahe sandfreien, von Trockenrissen durchzogenen Bett eines großen Sees gebildet wurde. Dort, so glaubte Zot, konnte es noch Feuchtigkeit im Boden geben, die Pflanzen und Tiere nährte und auch den Kitonaks genug Nahrung bot. Aber nur, wenn der Sturm nicht die Bergkette überwunden hatte. Es bestand jedoch die Gefahr, dass er keinen raschen Übergang durch das Gebirge fand, sondern tage- oder wochenlang darin herumirren musste. Das war gefährlich, nicht nur wegen des Risikos eines Absturzes, sondern auch weil er dort wohl keine Nahrung finden würde. Und zudem wusste er nicht genau, was für Wesen in den Schluchten lebten. Einige von ihnen stellten bestimmt eine Bedrohung dar.

Viel sicherer hingegen erschien ihm der Weg am Fuß des Gebirges entlang, die Route, die sein Stamm vor einiger Zeit zurückgelegt hatte. Doch genau da lag ebenfalls ein Problem. Denn dort konnte er ziemlich sicher sein, nicht auf eine andere Gruppe von Kitonaks zu treffen, und wenn doch, hatten sie den gleichen Nahrungsmangel wie seine Familie. Ja, es war keine leichte Entscheidung. Und keine, die er überhastet traf.

Sollte er sich entscheiden, durch die Berge zu gehen, so konnte er das ohnehin erst tun, wenn der Wind sich legte. Denn er musste den Weg vor sich erkennen, wenn er vermeiden wollte, von einer Sackgasse in die nächste zu stolpern oder gar zu nah an einen Abgrund zu geraten. So lange der Wind blies und Sand aufwirbelte, konnte er also in Ruhe nachdenken und die Pros und Contras abwägen. Je nachdem wann das Wetter sich änderte, konnte er besser beurteilen, ob er es ohne Nahrung bis über die Berge schaffen würde oder nicht. Also blieb er einfach stehen und wartete ab. Stundenlang. Tagelang.


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Zot hatte Glück: Nach einem weiteren Tag legte sich der Wind und die Luft klarte auf. Er konnte sich nun besser orientieren. Sein Blick schweifte über die Landschaft und er bemerkte, dass er schon weiter in die Berge hinauf gestiegen war, als er vermutet hatte. Eine weite Hügel- und Dünenlandschaft lag unter ihm und erstreckte sich im Süden, Westen und Osten in alle Richtungen. Dies war das Land, in dem er den größten Teil seines Lebens zugebracht hatte. Und so weit er auch schaute, konnte er nur Sand sehen. Nirgends Anzeichen von Vegetation, die über einzelne Chidinkasträucher, wulstige Sulfarupflanzen und andere Wüstengewächse hinausging. Der Sturm hatte tatsächlich ganze Arbeit geleistet und der Anblick bestärkte ihn im Nachhinein nochmals in seiner Entscheidung, sich von seinem Stamm zu trennen. Wenn er die Lage richtig einschätzte, würden auch andere junge Kitonaks diese Entscheidung treffen müssen.

Wenn es irgendwo noch Überreste der paradiesischen Zustände gab, die in den ersten Wochen nach den Regenfällen geherrscht hatten, dann jedenfalls jenseits des Gebirges. Zu diesem Schluss war er schon während der vielen Stunden gekommen, die er nachdenkend im Wind gestanden hatte. Auch dies wurde von der Aussicht nochmals bestätigt. Damit stand sein Enschluss fest, den Weg über die Berge zu wagen, in der Hoffnung, dass die Dinge dort besser standen. Die bessere Sicht nach Abflauen des Windes machte dies nun möglich, vorausgesetzt, es blieb auch eine Weile so. Ihm blieben noch zwei Wochen, bis sich wieder Hunger einstellen würde, lange genug um die jenseitige Ebene zu erreichen, wenn nicht irgend etwas fatal schief ging. Dazu fielen ihm gleich mehrere Möglichkeiten ein. Aber ein Risiko gehörte eben dazu.

Zot sondierte mit gründlichen Blicken die felsigen Hänge vor ihm. Er versuchte eine Stelle zu finden, an der die Berge passierbar aussahen. Doch da er bereits am Hang stand, konnte er nur die ersten Gipfel direkt vor sich sehen und das, was dahinter liegen mochte, nicht einmal erahnen. Es fehlte ihm am richtigen Überblick. Insofern war beinahe egal, in welche Richtung er sich wandte, und er entschloss sich nach einigen Minuten, dortlang zu gehen, wo es ihm im Augenblick am einfachsten erschien. Dass ihn dies vielleicht in wesentlich unwegsameres Gelände oder gar in eine Sackgasse führte, musste er in Kauf nehmen. Aber gefährliche Kletterpartien kamen vielleicht noch früh genug, so dass er sie nicht schon jetzt herbeizwingen wollte.

Langsamen Schrittes setzte er sich wieder in Bewegung. Der Wanderstab verursachte im Takt mehrerer Sekunden klickende Geräusche auf dem festen Boden, der sich nur in Senken mit Sand gefüllt hatte. Ein weiteres Risiko, das Zot mit einkalkulieren musste. Es war schwer zu sagen, wie tief solche aufgefüllten Gruben waren und wie tragfähig der Sand war. Glitt er in ein Loch hinab, dessen Ränder zu steil waren um wieder hinaufzuklettern oder das so tief war, dass der Druck des Sandes ein Entkommen unmöglich machte, dann war es um ihn geschehen. Dass Fließsand häufig auch Raubtieren als Unterschlupf diente, kam erschwerend hinzu. Eine von vielen Gefahren, denen er sich bei der Überquerung der Berge aussetzte. Aber niemand hatte behauptet, dass es einfach werden würde.


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Die Landschaft um Zot herum war bizarr zu nennen. Tektonik und Wetter hatten gemeinsam die Felsen geformt, die sich in dieser Gegend zu einer niedrigen Gebirgskette auftürmten. Temperaturschwankungen hatten den Stein abgesprengt und Sandstürme ihn zurecht geschliffen, so dass er steile Wände, schmale Schluchten und schroffe Türme und Zinnen bildete. Der Nomade war noch nie in dieser Gegend gewesen, in der es keine Chooba-Schnecken und dementsprechend keine Nahrung für einen Kitonak gab. Sich hier zurecht zu finden erwies sich nicht gerade als einfach. Mehrmals blieb er stehen und dachte eine Weile darüber nach, wie er wohl am besten weiterginge. Nicht immer entschied er sich richtig. Mehrmals musste er umkehren und einen anderen Weg suchen, wenn ein Weiterkommen zu riskant oder ganz und gar unmöglich war. Doch unter dem Strich gelangte er immer weiter in die Berge hinein, in denen er sich nun bereits mehrere Tage aufhielt - an einem hatte er pausieren müssen, denn der Wind hatte nochmals aufgefrischt und der Sand die Sicht versperrt.

Zot lernte viel über das Land, während er unterwegs war. Die Berge waren keineswegs so leblos, wie es für den unbedarften Betrachter den Anschein haben mochte. In den schattigen, windgeschützten Arealen lebten Pflanzen, die ihre Wurzeln in schmale Felsspalten trieben oder dicht in Staub und Schotter gruben. Und auch Tiere gab es hier, von kleinen Insekten und Reptilien bis hin zu größeren, geflügelten Wesen, die auf die kleinen Jagd machten. Da keiner der Bergbewohner in einem langsam vorbeitrottenden Kitonak eine Bedrohung sah, konnte er sie während der Wanderung betrachten und beobachten. Manche von ihnen hatte er noch nie im Leben gesehen, andere nur selten oder vor so langer Zeit, dass erst bei dem Anblick die Erinnerung zurückkehrte. Obwohl ihn vor allem in den Nächten oft die Einsamkeit plagte, konnte er seiner Reise mittlerweile auch manch Positives abgewinnen. In diese Gegend wäre er unter normalen Umständen wahrscheinlich niemals gekommen.

An der letzten Weggabelung hatte er sich nach links gewandt. Diese Entscheidung war Zot viel schwerer gefallen als andere zuvor. Denn zum ersten Mal hatten dabei sein Verstand und sein Gefühl in direktem Widerstreit gelegen. Er hatte vor der Wahl gestanden, ob er in ein schmales Tal mit ebenem Boden hinein gehen oder nach rechts auf einen etwas instabil wirkenden, flach ansteigenden Geröllhang ausweichen wollte, der ihn auf den nächsten Rücken führte. Eigentlich hätte er sich diese Frage überhaupt nicht gestellt, wenn ein Gefühl ihn nicht davor gewarnt hätte, den Weg in diese Richtung fortzusetzen. Aber wie die meisten Mitglieder seines Volkes neigte er nicht zu Bauchentscheidungen, sondern wägte vor einem Entschluss gründlich die Argumente ab. Für den Hang hatte kein einziger rationaler Gesichtspunkt gesprochen, nur eben sein Gefühl. Also hatte er dem Verstand den Vorzug gegeben und war dem Tal gefolgt. Mittlerweile verengte es sich zu einer Schlucht. An beiden Seiten stiegen die Wände fast lotrecht an. Erklettern konnte er sie unmöglich. Aber noch gab es keinen Hinweis darauf, dass dies zu einem Problem werden könnte. Der Weg war breit genug, damit Zot bequem und schnell vorankam. Zwei Stunden lang wirkte es so, als sei diese Entscheidung absolut richtig und seine irrationale Sorge überflüssig gewesen. Sofern die Schlucht nicht abrupt an einer oder einem Abgrund Felswand endete, konnte er sich nicht vorstellen, was daran falsch sein könnte.

Etwas anderes hielt die Schlucht aber für ihn bereit. Etwas, womit er nicht gerechnet hatte, obwohl es im Nachhinein betrachtet durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hatte. In diesen zerklüfteten Bergen war es nur eine Frage der Zeit, bis er darauf stieß: Den Eingang einer Höhle. Wie angewurzelt und zugleich zu Eis gefroren erstarrte Zot abrupt, als er den schwarzen Spalt vor sich in den Felsen klaffen sah. Ohnehin fiel nicht viel Licht in die Klamm, doch in die Höhle reichte es überhaupt nicht hinein; die Sicht endete nach nicht einmal fünf Metern. Düster und unheimlich wirkte dieser Ort. Sofort füllte sich Zots Gehirn mit den zahllosen Geschichten über Höhlen. Sie waren der Zugang zur Unterwelt; in sie hinein führten Wege ohne Widerkehr. Sie führten in das Reich der Toten, der Geister und Verdammten, das ein Lebender nicht betreten durfte; tat er es doch, war er verloren. Eine mächtige Urangst regte sich in dem jungen Kitonak, als er in die fremdartige Schwärze vor ihm starrte, die jede Schrecklichkeit der Welt beinhalten konnte, ohne dass er es sah.

Nun wusste er, dass der Geröllhang trotz seiner Risiken doch die bessere Wahl gewesen wäre. Er stand vor einer Sackgasse. Denn die Höhle zu betreten war ihm ebenso wenig möglich, wie eine Steilwand zu durchschreiten, auch wenn das Hemmnis dabei nicht physischer, sondern psychischer Natur war. Doch das machte für ihn keinen Unterschied. Das Grauen war zu groß, um überhaupt den Gedanken an eine mutige Torheit zuzulassen. Zot brauchte nicht lange, um eine Entscheidung zu fällen. Er machte auf der Sohle kehrt und marschierte durch die Klamm zurück. Es war kein gutes Gefühl, die schwarze Spalte mit allem, was darin womöglich lauerte, hinter sich zu wissen. Abermals dauerte es zwei Stunden, bis er die Strecke zurückgelegt und die Stelle erreicht hatte, an der ihn vorhin ein starkes Gefühl gewarnt hatte.


»Hätte ich es nur befolgt!« sagte er bei sich. »Das werde ich mir für die Zukunft merken. Wenn auf meinen Instinkt bei der Wahl des Weges ebenso Verlass ist wie beim Einschätzen des Wetters, werde ich ihn nicht mehr so leichtfertig ignorieren!«

Kurz entschlossen setzte er seine breiten Füße nacheinander in das Geröll. Der Untergrund war nachgiebig, aber nicht so instabil, wie er gewirkt hatte. Zwar rutschten Steine zu Tal und der Kitonak musste aufpassen, es ihnen nicht gleichzutun. Aber mit der angemessenen Vorsicht kam er gut voran. Als er schließlich den nächsten Gipfel erreichte, bot sich ihm eine grandiose Aussicht: Alle Berge vor, hinter und rings um ihn herum waren niedriger als derjenige, auf dem er stand. In allen Schattierungen von Gelb und Orange lagen sie ihm zu Füßen, die sinkende Sonne ließ sie rot erstrahlen und bemalte sie zugleich mit gezackten und gewellten Schatten. Zot hatte den höchsten Punkt seiner Wanderung erreicht. Und vor ihm, jenseits der Felsenlandschaft, sah er rosarot im Abendschein die salzige Ebene glänzen.

Diesmal folgte er nicht der Vernunft, die ihm riet, möglichst schnell den Hang hinabzusteigen und einen geschützten Ort für die Nacht zu suchen. Stattdessen blieb er auf dem Gipfel stehen und bestaunte die Wunder der Natur, die sich unter ihm ausbreiteten. Erst als die Sonne hinter den Höhen verschwunden war und sich graue Dämmerung über das Land legte, riss er den Blick von der Landschaft los und hielt nach einem Lagerplatz Ausschau.


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Zwei erwähnenswerte und nicht ganz ungefährliche Vorfälle gab es auf Zots Abstieg auf der Nordseite des Gebirges.

Der erste war eine weitere Begegnung mit einem Raubtier. Nichts wies auf die Gefahr hin und diesmal hatte der Kitonak auch keine diesbezügliche Vorahnung. Der große, klauenbewehrte Schemen sprang einfach von einem großen Felsen herab und stürzte sich auf ihn. Das Tier war mindestens doppelt so schwer wie er - ein Kampf war aussichtslos. Daher reagierte Zot so, wie es seine grundlegendsten Selbsterhaltungstriebe ihm geboten: Er stellte sich tot. Hände und Füße zog er nah an den Körper heran, dicke Hautlappen stülpten sich über sein Gesicht. So verkapselt und zu einem unförmigen Klumpen zusammengekauert, konnte er nur hoffen, dass seine dicke Haut den Angriffen standhielt und das Tier bald das Interesse an ihm verlor. Zuerst schien es so, als hätte er es dem Gegner nur unnötig leicht gemacht: Der Räuber warf sich auf ihn und bearbeitete ihn mit Krallen und Zähnen, die sich tief in die dicke, aus Leder und festem Speck bestehende Körperhülle bohrten. Doch sie drangen nicht so tief, dass sie wichtige Blutgefäße oder innere Organe verletzen konnten. Zwar zerrte das Wesen gewaltsam an ihm, doch gelang es ihm trotz aller schmerzhafter Torturen nicht, ein Stück aus ihm herauszureißen, um an das fressbare Innere zu kommen. Es stieß und rollte den vermeintlichen Kadaver, was der Kitonak regungslos über sich ergehen ließ, doch fand es keine Schwachstelle. Als seine Mühen weder mit einer leichten Mahlzeit belohnt noch sein Jagdtrieb durch Gegenwehr angefeuert wurde, überließ es die zähe Beute irgendwann tatsächlich sich selbst und suchte das Weite.

Zot blieb daraufhin noch eine geraume Weile liegen. Einerseits wegen der Schmerzen, die ihm gar keine starken Bewegungen erlaubten. Andererseits aus Angst, einen weiteren Angriff zu provozieren. Denn er wusste nicht, wie weit der Gegner sich zurückgezogen hatte und ob er ihn noch beobachtete. Als er sich aber doch irgendwann dazu durchrang, zumindest die Augen und Nase einen Spalt freizugeben und sich vorsichtig umzuschauen, schien die Gefahr für den Augenblick gebannt zu sein. Es war nun schon das zweite Mal, dass etwas ihn angriff und er nur durch Glück und seine Fähigkeit, sich in etwas augenscheinlich Lebloses zu verwandeln, davonkam. Diesmal jedoch war er nicht mit einem Kratzer davongekommen, sondern trug eine ganze Reihe von Verletzungen. Zwar begann seine Haut bereits damit, die Schnitte und Stiche mit dicken Falten zu überstülpen. Doch würden sie ihn eine Weile beeinträchtigen. Unter Schmerzen setzte Zot seine Wanderung fort, in dem Bestreben, möglichst schnell das Territorium des Jägers zu verlassen.

Der zweite Vorfall ereignete sich kurz bevor er die Ebene erreichte. Auf den letzten Metern verlor er in einem unachtsamen Moment, zu dem sicherlich auch die Ablenkung durch die Verletzungen beigetragen hatte, den Halt. Er rutschte, begleitet von einem Zentner Geröll, einen Hang hinab, schlitterte an rauem Fels entlang, schlug gegen Kanten und legte dann ungefähr drei Meter im freien Fall zurück, bevor er endlich in einer Mulde am Fuß des Abhangs zum Stillstand kam. Vorsichtig erprobte er seine Glieder und stellte fest, dass nichts gebrochen war. Die Stöße und andere Auswirkungen der ruppigen Fahrt hatte seine robuste Haut recht gut abgefangen, so dass es nicht zu neuen Verletzungen gekommen war. Dennoch konnte er dieses Ereignis nicht einfach abtun, denn es mochte schlimme Folgen nach sich ziehen: Eine Untersuchung der Biss- Schnittverletzungen zeigte, dass während seiner unfreiwilligen Abfahrt viel Schmutz hinein gekommen und tief eingedrungen war. Das war besorgniserregend, denn es war nun nicht auszuschließen, dass er sich gefährliche Entzündungen zuzog. Ohne den Beistand eines Heilkundigen, zu denen er selbst nicht zählte, war es ungewiss, ob er eine schwere Infektion überleben konnte. So gut es mit den dicken Fingern und einfachen Werkzeugen ging, versuchte er, die gröbsten Schmutzpartikel aus der Haut zu entfernen und opferte auch seinen letzten Wasservorrat dafür. Doch wirklich zufrieden war er mit dem Ergebnis nicht.

Der Marsch über das Gebirge hatte seine Tücken gehabt und ihm aufgezeigt, dass die einsame Wanderung durch die Wüste ihre schönen, aber auch ihre bedrohlichen Seiten hatte. Er hatte sich nie vor der Umwelt gefürchtet, merkte nun aber, dass sie für einen einzelnen Kitonak viel gefährlicher war als für einen ganzen Stamm. Er hatte die Risiken nicht richtig eingeschätzt, als er sich einerseits zum Aufbruch und andererseits zum Marsch über das Gebirge entschieden hatte. Aber nun lag diese Etappe beinahe hinter ihm. Noch vor dem Sonnenuntergang sollte er seiner Schätzung nach die untersten Ausläufer der Berge erreicht haben. Wenn er noch einmal im Schutz der Felsen sein Nachtlager aufschlug, konnte er mit dem Morgenlicht die vor ihm liegende Ebene in Augenschein nehmen. Er befand sich nun auf Land, das nicht zum Wandergebiet seiner Familie gehörte. Ein ganz neues Kapitel begann.


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Die Landschaft auf dieser Seite des Gebirges unterschied sich maßgeblich von dem Dünenland, aus dem Zot gekommen war. Die Ebene war flach und weitgehend sandfrei, der Boden war hart und von tiefen Trockenrissen durchfurcht. Es war das Bett eines gewaltigen Salzsees, der nun, nur einige Wochen nach der Regenzeit, offenbar wieder vollständig ausgetrocknet war und sein altes Gesicht angenommen hatte, das ihn wohl die letzten zehn Jahre gekennzeichnet hatte. Bis zum weit entfernten Horizont schien es nichts zu geben außer der hellen, weiß glänzenden Fläche, die das Sonnenlicht so grell reflektierte, dass Zot seine Augen noch etwas tiefer in den Hautfalten verbarg, um nicht geblendet zu werden. Über die Rezeptoren an seinen Füßen nahm er den salzigen Geruch auf. Er wirkte auf ihn anregend, schmeckte nach Neuem, Unbekanntem. Einen so großen Salzsee hatte er noch nie gesehen. Ob diese Gegend das Zeug dazu hatte, die kurze Nahrungskette von den Sulfarupflanzen über die Chooba-Schnecken bis zu den Kitonaks zu ernähren, und ob er dementsprechend eine Chance hatte, hier auf Artgenossen zu treffen, wusste er nicht.

Gemächlichen Schrittes stapfte der Nomade voran. Dabei hielt er Ausschau nach Anzeichen auf Leben. Nicht aus reinem Interesse, wie es in den Bergen der Fall gewesen war, sondern in dem Bewusstsein, dass sein Überleben davon abhing, Nahrung zu finden. Es war nun tatsächlich schon drei Wochen her, dass er die letzte Chooba gegessen hatte. Nicht mehr lange, und er würde eine weitere benötigen. Schon jetzt meldete sich der Appetit und zeigte ihm, dass er einige Tage früher essen musste als gewöhnlich. Die einsame Wanderung, vor allem die Überquerung der Berge, hatte ihn mehr Kraft und Energie gekostet als der gemächlichere Zug mit seiner Familie. Je mehr er also Nahrung fand, oder besser gesagt: Je eher sie ihn fand, um so besser. Wenn er sich verkalkuliert hatte und hier keine Beute machte, war es um ihn geschehen. Ein Risiko, dessen er sich bewusst gewesen war, als er seinen Stamm verlassen und sich später zum Weg über das Gebirge entschieden hatte.

Zur Jagdstrategie der Kitonaks gehörte vor allem Geduld. Aber man konnte sich nicht einfach mitten in die Wüste stellen und hoffen, dass durch Zufall eine Chooba vorbeikam. Der Standort musste gut gewählt sein, wenn man sich auf die Lauer legte. Es musste eine Stelle sein, die den Tieren gute Lebensbedingungen bot, oder an deren Wanderweg zu einem solchen Ort liegen. Für gewöhnlich folgten die Kitonaks den Schneckenherden, was eine enorme Erleichterung darstellte. Falls man diese Möglichkeit aber nicht hatte, galt es, die Gegend gründlich zu erkunden und den besten, vielversprechendsten Platz ausfindig zu machen. Dann hieß es Warten, und stelle sich heraus dass man die Lage falsch eingeschätzt oder einfach kein Glück gehabt hatte, ging viel Zeit verloren. Zeit, die Zot nicht hatte; darum durfte er sich keine Fehler erlauben.

Vorerst hielt er sich am Rand des Gebirges. Hier, auf der Nordseite, gab es viele schattigen Stellen, geschützt vor Sonne und Wind, an denen sich Feuchtigkeit länger hielt oder vielleicht sogar während der Nacht kondensierte. In Zusammenhang mit dem mineralreichen Boden gab es dort die beste Chance auf Pflanzenwuchs, mit etwas Glück auch die robusten, anpassungsfähigen Sulfaro-Pflanzen. Und wo es Sulfaros, gab, da waren Choobas meist nicht weit.


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