Skizzieren wir mal ein Szenario. Zunächst einmal die gesicherten Fakten: Als Vergeltung für die Niederlage bei Kherson und als wortwörtliches Störfeuer zum G20-Gipfel feuern die Streitkräfte der Russischen Föderation nachweislich mehr als 100 Raketen auf Ziele in der Ukraine ab. Priorität haben dabei erneut Energieerzeugung und Versorgung. Direkt gegenüber der polnischen Grenze existieren auf ukrainischer Seite ein Kraftwerk und Überlandleitungen (letztere verbinden nach Polen), also lohnende Ziele. Die ukrainische Luftabwehr wird aktiviert, um die Raketen abzufangen. Eine oder mehrere Raketen bzw. Teile davon schlagen auf polnischem Gebiet nur etwa fünf Kilometer von der Grenze entfernt ein, wodurch zwei Menschen getötet werden.
Da in dieser Nacht zahlreiche Raketen abgefeuert wurden und sowohl die Ukraine als auch die Russische Föderation das Waffensystem S-300 nutzen (die Russische Föderation nachweislich auch als Boden-Boden-System, um Fähigkeitslücken zu schließen), muss, wie in solchen Fällen üblich, erst einmal genauer ermittelt werden. Vieles ist möglich, Fehlschüsse von russischer und/oder ukrainischer Seite sind allerdings am wahrscheinlichsten.
Nun die Theorie, die derzeit am häufigsten genannt wird: Bei der Verteidigung gegen die russischen Angriffe geht wahrscheinlich eine Rakete aus einem ukrainischen S-300-Luftabwehrsystem fehl. Das Selbstzerstörungssystem versagt aus technischen Gründen - es handelt sich um einen tragischen Unfall. Nicht unwahrscheinlich ist auch, dass eine russische Rakete aufgrund von Beschuss oder Fehlberechnungen ihr Ziel auf ukrainischer Seite verfehlte und in Polen aufschlug.
Das wird man nun in aller Ruhe gründlich klären müssen, und das tut man auch. Dass die polnischen Streitkräfte in Grenznähe verstärkt und in höherem Ausmaß alarmiert sein werden, ist selbstredend. Sollte sich herausstellen, dass es eine russische Rakete war, werden sicherlich noch einige Protestnoten folgen und nach Beratungen innerhalb der NATO z. B. auch verstärkte Materiallieferungen an Polen und die Ukraine. Und wenn es eine ukrainische Rakete war, wird Polen von der Ukraine gewiss eine förmliche Entschuldigung und Entschädigungen für die Angehörigen der Toten verlangen. Der Dritte Weltkrieg, von dem jetzt schon wieder panisch geraunt wird, fällt wie üblich aus.
Eines bleibt aber unverändert: Aus freiem Entschluss und ohne Not hat die Russische Föderation einen Eroberungskrieg gegen einen souveränen Staat in Europa begonnen und trägt damit die Verantwortung für die Gesamtsituation. Ohne russische Raketenangriffe (auch und gerade auf Ziele in Grenznähe) keine ukrainische Luftabwehr. Und das Recht darauf, sich selbst verteidigen zu dürfen, ist im Völkerrecht fest verankert.