Oh, man! Das nimmt ja Züge an. Dass das bei einer wenig erfolgreichen WM (z.B. Viertelfinal-Aus) nochmal alles aufgegriffen werden würde, war mir schon Anfang Juni klar. Dass man aber nun fast auf den Tag genau einen Monat nach dem Vorrunden-Aus(!) so eine mediale Schlammschlacht, bei der jeder sein Gesicht wahren möchte, lesen muss - dass ist schon heftig.
Den Umgang mit Özil seitens vieler Bürger und Medien finde ich derzeit ziemlich widerwärtig. Es ist sooo viel Heuchelei dabei. Die Causa Özil (und auch Gündogan) hätte man im Rahmen der Nominierung kurz und schmerzlos lösen sollen. Stattdessen wollte man sportlich nicht auf die beiden verzichten und spielte das Thema herunter. Um vom eigenen Scheitern abzulenken, wird dann vom DFB (Bierhoff, Grindel) kurzerhand Özil zum Sündenbock erklärt und quasi im gleichen Atemzug betont, dass man selbst jedoch beim Neuanfang mithelfen möchte. So weit so gut. Oder so weit so schlecht. Wie auch immer. Dass dann aber jetzt Ex-Häftlinge und Dampfplauderer wie Uli Hoeneß wie auch irgendwelche Studentinnen(?) bei 'Sat1' interviewt werden und alles auf das Sportliche schieben, ist einfach dermaßen schäbig. Um das Sportliche ging es den Leuten doch fast nie. Es sei denn, sie hätten ihre ganz eigene Blubberblasen-Welt; gut, dann kann man ihnen auch nicht helfen. Aber 23 Tore und 40 Vorlagen in 92 Länderspielen sprechen schon eine gewisse Sprache. „Neeee, das sind doch Alternative Facts! Immer wenn ich den Özil in der Kneipe beim Länderspiel gesehen habe, hatte der hängende Schultern und hat nie gegrätscht!!1!“ Solche Leute kann ich einfach nicht mehr hören. Das ist Ignoranz, Getrolle, Rassismus, fußballerische Nicht-Kompetenz oder alles gleichzeitig. Tja, es ist halt so leicht. Ich muss wieder an die junge Frau im TV denken. „Also mit seinen Wurzeln oder diesem Foto hat das überhaupt nichts zu tun. Aber ich finde, der Özil hat voll schlecht gespielt die letzten Jahre. Sportlich sollte er weg.“ Ah ja. Aber Müller dann auch? Ach ne, das ist ja Barilla-Müller! Der hat bei der Nation einen Stein im Brett. Oh, der ist ja auch Vollblut-Deutscher! Ne, ne, der kommt schon wieder groß auf bei der EM 2020. Sprecht doch einfach aus, wie es ist. Das wäre wenigstens ehrlich. Ein bisschen Mumm sollten die Leute dann schon haben. Das Sportliche ist doch der vorgeschobenste Grund; demnach müssten halt eine ganze Stange an Spielern zurücktreten. Es geht um dieses Foto und dass Özil sich quasi als Türke und Erdogan-Anhänger bekannt/entlarvt hat, als es hart auf hart kam. Damit ist er (als Nationalspieler) unerwünscht bei den meisten Deutschen und das ist ein legitimer Gedanke. Das hat auch nichts mit General-Rassismus zu tun, denn ein Khedira beispielsweise war in meiner Wahrnehmung stets ein äußerst respektierter und beliebter Spieler beim deutschen Fußball-Publikum. Der wurde nie so kritisch gesehen, wie Mesut Özil. Allerdings bin ich hier auch bei Äpfeln und Birnen angelangt. Khedira ist halber Tunesier, Özil ist Türke. Ich will mich hier jetzt nicht verennen, aber eventuell wird klar, was ich ausdrücken möchte. Özil tut in seinen Statements so, als wäre er das ungeliebte Kind der Nationalmannschaft, weil er Türke und Moslem ist. Aber dass es auch so etwas wie eine politische Haltung gibt, darauf geht er kaum ein bei seinem Rundumschlag.
Kurz und knapp:
Ich finde es gut, dass Özil sich von der Nationalmanschaft verabschiedet hat, verspüre aber eine Form von Fremdscham, wenn die Leute ihre Freude über diesen Rücktritt auf die „seit vier, fünf Jahren super miesen Auftritte“ gründen. Ich würde mir ein bisschen mehr Ehrlichkeit bei den Leuten wünschen. Es gibt meiner Ansicht nach zwei große Lager: (1) die einen, die ihn schon aus rassistischen und fremdenfeindlichen Gründen seit Jahren aus der N11 herausschreien und sich jetzt mit „Ich-hab's-euch-ja-gesagt“-Parolen freuen können sowie (2) jene, die schlicht seine Haltung zu Deutschland sowie zur Türkei um Erdogan scharf kritisieren. Aber sportliche Gründe? Ernsthaft? Nach dieser WM mit Kollektiv-Versagen? Das ist alles soooo billig. Jeweils auf seine eigene Art und Weise.
Billig vom DFB, den verdienten Spieler Özil erst nach der WM zu kritisieren, weil man sich erhofft hat, ihn erst noch zu sportlichem Erfolg „auszunutzen“.
Billig von Özil, sich jetzt primär mit der Rassismus-Nummer rauszureden und das Foto mit einer Pseudo-Pflicht zu verteidigen.
Billig von vielen Leuten und Medien, Özil jetzt sportlich dermaßen ins Negative zu verklären, dass der Rücktritt doch wieder „folgerichtig“ erscheint.
Wobei am ehrlichsten noch Özil selbst wegkommt, der zwar ein fragwürdiges Weltbild zu haben scheint (oder halt von seinen Ghost-Writern aufgedrückt bekommmt), jedoch zu seinem Geschwurbel auch zu stehen scheint. Abschließend: ich möchte keinem seine Meinung zum Sportlichen nehmen - bitte nicht falsch verstehen! Aber die hier und da wahrzunehmende Intensität der Kritik an seinen Leistungen ist aus rein objektiver Sicht zumindest nicht als sonderlich seriös einzuschätzen. Und dann sind wir wieder beim Punkt; ich kann es drehen wie ich will. Sagt einfach: a) „Yeah, ich will so einen Türken nicht in der N11 sehen“ oder b) „Yeah, ich will so einen Erdogan-Sympathisanten nicht in der N11 sehen“. Das wäre ehrlich und der zweite Punkt ist sogar ziemlich legitim, wenn man mich fragt. Aber nicht dieser getarnte Rassismus beziehungsweise diese politische Duckmäuser-Haltung. Da hat sich echt etwas Unangenehmes entwickelt, die letzten Jahre...