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Die Natur, ob nun auf der Ebene eines Raubtieres oder einer Bakterie, hat nur ein Ziel: Leben, und wenn es auf Kosten anderen Lebens geht. Deswegen würde ich sie aber nicht unmoralisch nennen, denn sie hat kein Bewusstsein und somit keine Verantwortung für ihr Handeln (ist das nicht auch eine der Feststellungen Vergeres, dass "gut" und "böse" erst mit der Entwicklung eines Bewusstseins entstanden sind?). Natur tötet in aller Regel nicht "unnötig" ? wenn sie es tut, ist das "unnatürlich" - auch wenn uns bestimmte Dinge unnötig und bösartig erscheinen mögen (z.B. ein tödliches Virus ? aber dieses folgt auch nur dem Drang, zu leben; oder wenn ein neuer Rudelführer den Nachwuchs seines Vorgängers tötet).
Nochmal das Zitat, weil ich auf nochmal etwas anderes eingehen will

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Unter "unmoralisch" verstehe ich nicht, dass etwas keine Moral hat. Sondern, dass
jemand andere Moralvorstellungen hat (weil das auf die Natur eben nicht zutrifft, habe ich das Wort vermieden). Die Diskussion hatten wir schon einmal, glaube ich, auch, ob zu der Moral altruistische Konzepte automatisch dazugehören. Für eine anständige, für mich akzeptable Moral ja, aber erstmal ist "Moral" bloß ein Wort, unter dessen Schirm sich Wertevorstellungen sammeln. Ein möglicher ? ich sage nicht "guter", aber ein möglicher ? Wert ist "oberstes Gebot ist, dass es mir gut geht". Deshalb habe ich auch bewusst "Die Natur hat keine Moral" geschrieben. Ihr da etwas anzudichten, ist völliger Blödsinn, wie du ganz richtig sagst. Wertevorstellungen kann nur jemand haben, der sich was vorstellen kann. Bei unbelebten Gegenständen schließen wir das üblicherweise, auch zurecht, aus.
Bei Tieren, insbesondere den höher entwickelten, betrachte ich die Sache schon zwiespältiger. Das ist natürlich ein Feld, in dem es keine gesicherten Erkenntnisse und stattdessen viele Kontroversen gibt (es gibt ja auch Forscher, die dem Menschen die Fähigkeit zu bewussten Entscheidungen absprechen). Ist die Katze nicht böse oder zumindest gemein, wenn sie mit der ihr weit unterlegenen Maus spielt, bevor sie sie tötet? (Das ist ein Klischee, das ich persönlich nicht bestätigen kann, weil "meine" Katze ? die Katze meiner Schwester eigentlich -, wenn sie überhaupt Mäuse jagt, das nachts und heimlich tut. Mein Plan, ihr eine Kamera anzubinden um zu sehen, was die eigentlich macht hinterm Haus, ist bisher auf Widerstand gestoßen.) Kann es nicht auch persönliche Gründe dafür geben, wenn ein Wolf die Kinder tötet, die ein anderer Wolf mit einer besonders geliebten Wölfin gezeugt hat, und muss man das dann nicht auch moralisch beurteilen?
Die Beantwortung dieser Fragen hängt davon ab, inwieweit Tieren ein Bewusstsein zugestanden wird, das über Reflexe und Instinkte hinausgeht. Eine definitive Antwort darauf gibt es nicht, das weiß ich natürlich. Ich sage das deshalb und auch im Hinblick auf die Haustierdiskussion, weil man das Gartenmodell unter anderem auch auf dieses Problem anwenden kann. Menschen ? alle Menschen, oder, für dieses Beispiel, die meisten ? sind jeden Tag Gärtner. Wenn es um Blumen und Unkraut ? gegenständlich, ohne bildhafte Aufladung ? geht, stört es keinen, was rausgerissen und was reingepflanzt wird. Tieren, Säugetieren vor allem, fühlen wir uns schon etwas näher verbunden, weil wir tatsächlich näher mit ihnen verwandt sind (und das auch unbewusst Auswirkungen hat). Rechtlich gesehen sind sie trotzdem Objekte, keine Personen. Wenn ein Haustier krank ist, treffen wir eine "moralische" Entscheidung, das Tier einschläfern zu lassen, "weil das besser so ist". Wir erdreisten uns, eine Katze, einen Hund, einen Affen umzubringen, obwohl auch Katzen, Hunde und Affen nachweislich träumen, Gefühle haben und spielen können. Den eigenen Willen kann das Tier uns nicht mitteilen, den lesen wir ? wenn überhaupt ? in bestimmte Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen hinein, um unser eigenes Gewissen zu beruhigen. Ich will das gar nicht verurteilen; wie ich ausgangs gesagt habe, ist das keine einfache Frage. Aber wir sind jeden Tag Gärtner.
Und wenn man das will, kann man
Kritik an diesem Zustand in 'Traitor' hineinlesen, dadurch, dass der Leser durch ein besonders markantes Beispiel darauf aufmerksam gemacht wird. Ich lasse nocheinmal das Stichwort vom "mündigen Leser" fallen: 'Traitor' ist ein intelligentes Buch, ein philosophisches, auch ein ehrliches,
weil es so offen ist. Das Buch für sich selbst gesehen hat keinen "Sinn". Der entsteht erst in der Rezeption, im Spiel zwischen Text und Leser (und zwischen Leser und Leser). Das sieht auch der Autor so, weswegen er immer gesagt hat, dass er kein Problem mit irgendeiner Interpretation hat, solange sie am Text belegbar ist. Deshalb mag er es nicht, selbst Stellung zu der "Bedeutung" seiner Romane zu nehmen; seine Meinung hätte zu viel Gewicht.
Wenn man das unbedingt so sehen will, dass im Roman nicht gegen, sondern für so eine Unterteilung, wie ich sie eben an der Beziehung Mensch/Tier skizziert habe, geworben wird, von mir aus (nicht nur für Tiere, sondern auch für allgemein als vernunftbegabt angesehene Wesen, was man allerdings wieder relativieren kann). Ich halte das vom Kontext des Romans nicht gestützt, aber das kann man anders sehen und einigen Fragmenten ein im Vergleich viel größeres Gewicht geben als dem Rest. Das kam dann aber nicht vom Autor, sondern wurde vom Leser in den Text hineingelesen.
Aber wenn Moral prinzipiell relativ ist, wer will dann den Richter und den Henker spielen?
Jeder. Jeder will das. Und die, die die Gelegenheit dazu haben, tun es auch.
Es gibt da diese Szene im Roman, in der Vergere irgendetwas will (ich glaube, eine von Jacens Wunden inspizieren) und Jacen das ablehnt. Sie führt ihm vor, dass seine Ablehnung kein Gewicht hat, wenn er nicht bereit ist, sie auch durchzusetzen, notfalls mit Gewalt. Ich weiß nicht mehr, ob das direkt so drinsteht, aber als Zusammenfassung kann man sagen: Jacen fragt: "Warum?" Vergere sagt: "Weil ich es kann."
Das ist
nicht eine Propagierung, dass das Recht des Stärkeren das tollste ist was es gibt. Das ist erstmal bloß ein deutliches Voraugenzeigen, dass das "Recht" des Stärkeren existiert. Das ist nicht gelogen, das ist eine Tatsache. Das gilt auch für uns. Wir haben das System nur verfeinert.
Wir als Gesellschaft haben bestimmte Forderungen, auch bestimmte Moralvorstellungen. Wir sagen: Wenn du dagegen verstößt, dann wirst du bestraft. Ist ja auch klar: jemand, dessen moralisches Zentrum anders tickt, wird ein bloßes "mach das nicht" nicht kümmern. Die Androhung der Strafe muss dahinter stehen, und man muss auch bereit sein, sie durchzusetzen. Das sind wir auch. In einem etwas komplizierten System werden die Vorstellungen der Mehrheit der Gesellschaft als Gesetze kodifiziert und Strafen für deren Bruch festgelegt. Wer eine Bank überfällt (und gefasst wird), wird verurteilt und kommt ins Gefängnis.
Das
ist das Recht des Stärkeren. Nur dass "der Stärkere" hier keine Einzelperson ist, sondern über mehrere Ecken (die das System stabilisieren und auch gut so sind) das ganze Volk, das
seine Rechte teilweise an den Staat abgegeben hat, der das Gewaltmonopol wiederum an die Polizei/Exekutive und das Rechtsmonopol an Justiz und Legislative weiterleitet. Einzeln kann man sein persönliches "Recht des Stärkeren" nicht durchsetzen, jedenfalls nicht in einer komplexen Gesellschaft ab einer gewissen Einwohnerzahl. Viele kleine Menschen schließen sich zusammen, um besser auf Bedrohungen, die theoretisch jeden betreffen können, reagieren zu können. Der Stärkere ist der Staat, und dass er von seinem Recht Gebrauch macht, stört niemanden. Wenn es doch mal einen stört ? bzw. nicht nur einen, sondern viele ? kann in einer Demokratie das Volk den Staat zurechtweisen. Das Volk, die Gesellschaft, hat dem Staat Macht gegeben ? und kann sie ihm auch wieder nehmen bzw. den Staat anders zusammensetzen (entweder in seiner Struktur oder, indem staatliche Teilbereiche anders besetzt werden, wie das bei Parlamentswahlen ständig geschieht). Das funktioniert sogar in Diktaturen, wenn auch natürlich weniger leicht und mit wesentlich höherem Risiko.
Statt auf "Gott" kann sich dann jeder auf seine Auslegung von Moral zurückziehen.
Das ist der Punkt. Hier setzt die Kritik an: Die Menschen sollen an dem gemessen werden, was sie tun (und vielleicht noch, warum sie es
wirklich getan haben), und nicht an den Beweggründen, die sie vorgeben. Ob eine Handlung, die mit einer bestimmten Begründung geschehen ist, gut war oder nicht, entscheiden viele Personen: der Handelnde selbst, die Gesellschaft als Ganzes, nach dem Ableben vielleicht auch ein göttliches Wesen, wenn es sowas gibt. Was der Stärkere entscheidet, hat größtes Gewicht; nicht weil seine Ansicht "richtiger" ist, sondern, weil er in der Lage ist, seine Meinung durchzusetzen. Der Stärkere ist ? jedenfalls in diesem Leben ? die Gesellschaft (wie auch immer sie organisiert ist und durch welche Organe auch immer sie urteilt).
Nehmen wir, um spoilerfrei zu bleiben, das Beispiel Kyp Durron: entzieht den Militärs zweier streitender Gruppierungen eine wichtige Waffe und nutzt sie, um ein Planetensystem hochzujagen. Es mag mildernde Umstände gegeben haben, egal. Er war in dieser Situation der Stärkere: Kyp entscheidet, Carida weg, und keiner konnte was dagegen tun (bzw.: keiner
hat etwas getan). Danach kommt Kyp in die "Gewalt" der Republik. Jetzt ist er nicht mehr der Stärkere; selbst wenn er aufbegehren könnte (was vermutlich der Fall ist), tut er es nicht. Weil er es nicht will. Er gibt sein Recht, als Stärkster aus einem Konflikt hervorzugehen, auf, weil er den Konflikt selbst nicht will. Jetzt wird die Sache undurchsichtig, weil nicht ganz klar ist, wo innerhalb des gesellschaftlichen Systems zu dieser Zeit die Zuständigkeiten liegen. Ich habe das Buch auch nicht da. Aber soweit ich mich erinnere, tritt Luke an den Senat heran und sagt, macht, was ihr für richtig haltet. Er lässt es hier nicht auf einen Kampf ankommen, sondern gibt sein Recht (aber auch, zumindest teilweise, seine Verantwortung) an den Senat ab. (Ich formuliere das alles absichtlich so martialisch, weil es das in seinen zugrunde liegenden Strukturen ist. Dass man hier Zeuge von Lukes Gerechtigkeitssinn wird, stelle ich nicht in Frage. Und bei Kyp ist es natürlich nicht so, dass er Widerstand ins Auge fasst und ihn nur nicht riskieren will; tatsächlich hat er Schuldgefühle, ist reuig und will Buße tun. Aber wenn man das Leben darwinistisch als Abfolge von Streitigkeiten und Machtdemonstrationen auffassen will, kann man das so tun wie ich eben.) Der Senat wäre hier der Stärkere und könnte Kyp beispielsweise der Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen, fühlt sich aber nicht zuständig und will sowieso mit der ganzen Sache nichts zu tun haben (sicher auch, weil Carida imperiales Territorium war). Der Stärkere ist letztendlich also Luke. Und das wird auch deutlich, denn er richtet über Kyp: und begnadigt ihn. (Und nachdem diese Entscheidung niemand anzweifelt bzw. niemand bereit ist, Lukes Autorität herauszufordern, bleibt das auch so und dieser "Prozess" ist abgeschlossen.)
Um zusammenzufassen:
1. Das Recht des Stärkeren:
Wenn man es kann, hat man das Recht der Machtausübung,
weil man es kann. Das ist ein Naturgesetz. Es gilt im Tierreich ebenso wie bei uns. Radikal gesagt ist es vielleicht das einzige universelle Recht, das einzige, das nicht von Menschen gemacht ist. Ironisch (aber nicht schlecht!), dass es üblicherweise das erste ist, das in menschlichen Gesellschaften beschränkt bzw. in einen Kontext gebettet wird.
2. Es beschränkt sich nicht auf einen Einzelnen. Es kann auch für Gruppen von Wesen gelten. Naja, im Grunde beschränkt es sich nichtmal auf Wesen. Wenn der Asteroid auf die Erde klatscht, demonstriert er auch, dass er der Stärkere war: niemand konnte ihn stoppen. Egal.
3. Der körperlich Stärkere ist dabei nicht automatisch auch "der Stärkere" in einer bestimmten Situation. Ein vernunftbegabtes Wesen kann sein naturgegebenes Recht aufgeben. Sei es, weil es sich später davon Vorteile verspricht; sei es, weil es selbst nicht richtig einschätzen kann, was sein objektiver Status ist und einen Kampf nicht riskieren will; sei es, dass das Wesen bestimmte moralische Richtlinien entwickelt hat, die es ihm verbieten, (alleine und ohne gesellschaftliche Rückendeckung) von seinem Recht Gebrauch zu machen.
4. Daraus folgt, dass das Recht des Stärkeren weniger mit Stärke als mit Willenskraft und mit Darstellung zu tun hat. Der Stärkere in einer Situation (und das ist immer situationsabhängig) ist der, der so wahrgenommen wird. Es ist der, der seinem Anspruch auf das Recht Nachdruck verleiht, mit Drohungen und schlussendlich auch Gewalt.
5. Das Recht des Stärkeren bedeutet nicht, dass der Stärkere immer recht hat. Ein Mob ist stärker als eine angebliche Hexe. Ein Polizeistaat ist stärker als einzelne Demonstranten (wenn es aber sehr viele Demonstranten gibt, muss das nicht der Fall sein; aber in so einem Fall kann der tatsächlich Stärkere, das Volk, entscheiden, von seinem Recht nicht Gebrauch zu machen, weil das Risiko zu hoch ist).
6. Das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch zu nehmen ist keine Garantie, aus einer Schlacht als Gewinner hervorzugehen. Es kann sich immer jemand zeigen, der noch stärker ist. Im 20. Jahrhundert bezwang ein einzelner Mann eine Großmacht. Ich spreche, natürlich, von Gandhi. Der britische Staat war stärker als er, stärker als Indien. Aber nicht so stark wie die versammelte britische Weltöffentlichkeit, die aufgrund ihrer moralischen Vorstellungen dem kleinen Mann Gandhi und dem kleinen Staat Indien das Recht auf Freiheit zubilligte -- und es höher einstufte. Damit das große Weltreich den Schwanz einzog, musste die Weltgemeinschaft nicht einmal drohen. Auch Moral kann nämlich Gewicht haben. (Dass Gandhi nicht ganz alleine war in seinem Widerstand, weiß ich natürlich. Auch, dass es auch andere Gründe gab für England, Indien freizugeben. Aber Gandhi hatte seinen Anteil daran.)
7. Der Stärkere ist der, der gewinnt. Aber ein Kampf ist keine Schlacht und eine Schlacht entscheidet keinen Krieg allein. Der eigentlich Stärkere kann einen "Kampf" verlieren (wenn er von seinem Recht keinen Gebrauch macht) und trotzdem als Sieger (der Stärkere) vom Platz gehen. Die Beurteilung erfolgt im Rückblick.
Vergere hat Jacen nicht beigebracht, dass "might is right" (um es reimend zu sagen). Sie hat ihm ein Naturgesetz demonstriert. Und es ihm auferlegt zu entscheiden, welche Art der Machtausübung in welcher Situation richtig ist.
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