[ Bastion - Center (Sith Orden) - Hangar - Iouna ]
Ian war nicht mehr im Cockpit. Auf dem Weg zu seinem Quartier war er an Iounas Tür vorbeigegangen. Sie konnte seine noch in der Luft liegende Präsenz, die nicht so schnell verflog, süß, schwer und unverkennbar, noch spüren. Warum hatte sie nichts gespürt als sie noch im Bett lag? Warum hatte sie Ians Schritte, ihn, Ian, nicht gehört? Auf einmal fröstelte sie und schlang ihre Arme um den Körper. Sie hatte Ian nicht gehört, ihn nicht wahrgenommen, nur weil sie an Stella dachte. Weil sie sich um Stellas Befinden Sorgen machte. Auf die gleiche Weise wie damals dachte sie an Ian nicht, genauso wie damals verschwendete sie an ihn keinen Gedanken, nicht mal den geringsten, nur an sich dachte sie.
Die kleine Iouna mochte den mürrischen Jungen (Ian), der niemals lachte, nicht. Sie hasste ihn nicht, aber er war ihr auf eine bestimmte Art gleichgültig. Es war ihr unangenehm, ihn zu sehen. Manchmal hatte sie ein wenig Angst vor ihm, vor seinem nach innen gekehrten Blick. Gehorsam hörte sie auf ihren Vater, der ihr jeglichen Kontakt mit der Familie Dice untersagte. Mit diesen schlechten Leuten. Und Ian? 'Der gehöre zu denen, versteh das doch, geliebtes Töchterchen… Er tut immer so harmlos, aber in Wirklichkeit hat er es faustdick hinter den Ohren' ….Warum. Warum hatte ihr Vater Ian nicht geholfen? Warum hatte er Ian nicht erkannt? Warum ihr Vater Ian nicht erkannte, verstand sie nicht. Er wusste doch, was die Familie mit Ian tat. Alle wussten, also keiner war an seinem Leid unbeteiligt, und keiner hatte Ian geholfen. Es interessierte keinen. Das Allerschlimmste war nur, dass Iouna es auch wusste, und zwar immer schon, ganz von Anfang an, und niemals sie auf die Idee gekommen war, Ian zu helfen. Auf die Idee Ian helfen zu wollen. Nicht mal ihren Vater fragte sie, nicht mal ganz leise, oder vor der Gutenachtgeschichte als sie beide entspannt im von sanften Licht gefluteten Bett lagen, im Gegenteil - Iouna nahm alles, was ihr Vater sagte stumm hin. 'Geh bloß nicht hin, diese Leute sind etwas verrückt, ich will nicht, dass auch dir, mir oder deiner Mutter etwas zustößt', hatte er gesagt. Warum hatte sie dann ihre Mutter nicht gefragt? Hätte sie, die Mutter, etwa Mitleid mit dem Kind Ian?
Auch die Mutter könnte die Polizei rufen. Die Sicherheitsleute rufen. Oder die Soldaten, Armeen, um Ian zu retten. Sie alle hätten Ian retten können, vor seiner Familie retten, ihn ganz ganz weit weg bringen, am besten auf einen anderen Planeten, einen der wunderschönsten in der Galaxis, zu einer ganz anderen Familie, einer die ihn über alles lieben würde. Gerettet hatte ihn aber keiner. Nicht mal gesprochen wurde über Ian, nicht mal getuschelt in dem Drecksdorf. Totgeschwiegen wurde Ian. Sie alle schauten weg und wollten es so, sie wollten weg schauen. Auch Iouna schaute weg und schwieg ihn tot. Warum. Warum nur. Warum widersprach Iouna nicht, als ihre Mutter oder wahlweise ihre kichernde große Halbschwester die Fenster schloss - immer oder eben nur sicherheitshalber zu bestimmten Zeiten, zum Bespiel als sie allesamt am Tisch saßen - die Fenster regelrecht absperrte, obwohl es in der Wohnküche noch heiß vom Kochen und stickig war. Um ungestört essen zu können. Warum hatte Iouna nicht ein Mal, ein einziges Mal den Mund aufgemacht? Warum hatte sie nicht ein Mal gesagt: Mama, mach doch das Fenster auf. Oder gefragt: Mama, warum bleibt das Fenster jetzt zu? Weil sie zusammen am Tisch saßen und die kleine Iouna es genoss, es geradezu liebte, ihre Familie um sich zu haben. Ihre liebenden Eltern. Sie wollte diese Augenblicke, in denen die Familie zusammen war, nicht stören, nicht kaputt machen, denn ihr Vater lächelte sie gerade so liebevoll an, er streichelte sie mit dem Handrücken an der Wange, ganz stolz auf ihre Schulnoten. Oder stolz wie hübsch und klug sie war. Sie war ganz der Papa. Dann küsste er sie auf die Stirn, sah ihr warm in die Augen und dann als das Essen kam, schnitt er ihr das Gemüse klein und pustete vorsichtig drauf, damit sie ihre Zunge nicht verbrennt. Erst viel später, und zwar als ihr Vater die Familie verlassen hatte, und damit Iounas heile Welt zum Absturz brachte, wagte sie in den Dice-Garten zu gehen. Aber dass sie es wagte, hieß noch gar nichts, oder doch, es hieß viel. Sogar viel zu viel: es machte alles nur noch schlimmer - für Ian.
Ein Zustand der hilflosen Resignation legte sich um Iounas Glieder. Nicht mal die Tränen der Reue wollten jetzt kommen. Taubheit. Innere Taubheit. Grenzenlose Erschöpfung. Leere. Vielleicht doch noch etwas Angst im Ansatz. Nicht Angst vor Ian. Angst vor sich selbst. Die Dunkelhaarige stützte sich an der bereits geöffneten Luke der Ausstiegsrampe, und blickte auf das dunkle Gebäude des Ordens. Leere. Nein, es war doch keine Angst, die sie spürte, es war nicht mal eine kleine Furcht im Ansatz, es war etwas völlig anderes. Etwas, was sie mit einem stillen Erschrecken und mit einer Verzögerung von einigen Sekunden erkannte: Erleichterung, weil es gar keine Strafe für sie geben könnte, die gerecht genug wäre.
Erst als sie Schritte hörte, kam die Telosianerin zu sich. Torryn. Er schlenderte zum Cockpit, um mit seiner Jacke um die Schulter gleich wieder herzukommen Er sah die Telosianerin länger an, dann blieb vor ihr stehen und sagte irgendwas über das Gebäudekomplex des Sith-Ordens. Beeindruckend, ja. Iouna nickte misstrauisch. Was wollte er jetzt von ihr?
Ein eigenes Quartier würde sie also im Orden bekommen. Ab dann würde sie zu den dunkeln Jüngern gehören. Zu der Gruppe der rangniedrigsten Personen im Orden. Man würde sie das spüren lassen. Was genau? Die junge Frau konnte sich kein Bild davon machen, aber als sie nachfragen wollte, wechselte Torryn plötzlich das Thema. Er sagte, dass Ian, Ian, sein Meister. Meister Ian, ihr Ian, Ian Dice… also er, Torryn, sagte, dass Ian ihm auftrug, sie solle ihn auf der Mission nach Ryloth begleiten. Kristalle. Bastion verlassen? Ian verlassen? Mit Torryn ohne Ian fort gehen? Stumm biss Iouna auf die Lippe, bis ein stechender Schmerz sie durchzuckte, und sie ihr eigenes Blut schmeckte.
„Da ist allerdings noch etwas. Ich habe ein ungutes Gefühl, was die Dinge auf Telos angeht. Wir sind von zu vielen Leuten gesehen worden, die immer noch leben. Meister Ian sagte, dass wir uns auch darum kümmern sollen, aber ohne die Frauen und Kinder zu töten.“ Sagte Torryn leise.
Auch Iouna hatte kein gutes Gefühl dabei, dass sie so viele Zeugen am Leben ließen. Ian wollte es aber so. Immer noch wollte er sie nicht töten. Stella wollte er nicht töten. Wie sollten sie aber, Torryn und Iouna, jetzt handeln?
„Was passiert mit Ian, wenn wir es nicht schaffen? Ist Ian in Gefahr?“ fragte sie, selbst erstaunt über die Gefasstheit in ihrer Stimme.
Torryn händigte ihr ihre Blasterpistole aus, die sie rasch in den Gürtel steckte. Sie sollte sie sich bei Torryn melden, nachdem sie ihr Quartier bezogen hatte, damit die Planung beginnen könne. Iouna verspürte einen stärkenden Willen in sich.
„Torryn, mach du dir aber keine Sorgen um mich, ich werde das alles hier schaffen, ganz bestimmt!“, sagte sie und ihre Stimme klang schon fast perfekt entschlossen, aber gleichzeitig besänftigend, und so als ob sie es nicht nur zu Torryn, sondern vor allem zu sich selbst sagen würde.
[ Bastion - Center (Sith Orden) - Hangar - Torryn, Iouna ]