- Fresia – Coromon Islands – Hill City – Strand -
Lange Zeit saß Giselle im Sand, den Blick auf den Ozean gerichtet. Weit in der Ferne war kaum zu unterscheiden, wo der Himmel aufhörte und wo er begann. Als sie den Mann entdeckte, wusste sie nicht, wie lange er bereits dort gestanden und sie beobachtet hatte. Zum Schutz vor der Sonne schirmte sie ihre Augen ab, doch es bedurfte keines zweiten Blickes, um in ihm den alten Mann aus der Bar zu erkennen. Die Vahla erhob sich und lief barfuß, ihre Sandalen in der Hand haltend, über den weißen Sand, der ihre Füße mit jedem Schritt angenehm einfing und umschloss. Der alte Mann hatte sich eine Pfeife angezündet und als Giselle ihn erreichte, zog er kräftig daran.
“Ein verrückter Planet, Fresia.“
Sagte er mit kratziger Stimme und es war das erste Mal, dass Giselle ihn sprechen hörte. In der Bar hatte er nur vor sich hin gestarrt, oder geschlafen. Sein Gesicht hatte sie, ob der breiten Hutkrempe, die seine Züge verdeckte, kaum erkennen können.
“Eine Nacht ohne Sterne. Verrückt.“
„Eine Nacht mit Sonne.“
Versuchte Giselle es positiv zu sehen, doch sie verstand seine Skepsis. Auch ihr war die so lange ausbleibende Dunkelheit noch fremd. Es fühlte sich an wie Tag, nur dass alle Menschen schliefen. Der alte Mann machte einen unbestimmten Laut, der einem Grunzen ähnelte und Giselle wusste nicht, ob es Zustimmung oder Ablehnung war.
„Wollten Sie mir etwas sagen?“
Fragte sie geradeheraus als er sie ansah wirkte es, als habe sie ihn dabei ertappt, etwas Verbotenes getan getan zu haben. Vielleicht hatte sie das auch. Er hatte zu ihr herüber gesehen, aber wer sagte, dass er mit ihr hatte sprechen wollen? Giselle bückte sich und hob eine Muschel auf. Sie liebte es, die Schalen dieser besonderen Meerestiere zu sammeln und die Schönsten heraus zu suchen. Als Kind hatte sie eine bläulich schimmernde Muschel mit kreisförmigen, ineinander verschlungenen Markierungen besessen. Sie hatte sie bei einer Wette verloren und noch Monate später nach einem Ersatz gesucht, doch so viele schöne Stücke sie auch gefunden hatte, keine der Muscheln hatte an diese perfekte Erinnerung heran gereicht.
“Ehrlich gesagt wollte ich nur etwas frische Luft atmen.“
Die angestrengt wirkende Stimme des alten Mannes ließ Giselle wieder aufsehen. Es hatte einige Momente gedauert, bis er ihr geantwortet hatte.
“Ich komme gerne hierher, ans Meer, besonders um diese Uhrzeit, wenn keine Touristen mehr hier sind.“
Giselle lächelte. Sie hatte vorhin gnau das gleiche gedacht, als sie am Strand gesessen hatte.
„Aber sind Sie nicht auch einer von ihnen? Ein Tourist?“
Fragte sie und der alte Mann entblößte eine Reihe gelblicher, aber gesunder Zähne.
“Was hat mich verraten?“
Fragte er zurück. Gut gelaunt erwiderte Giselle seinen amüsierten Blick.
„Ihr Akzent.“
Antwortete sie. Sie weilte erst seit ein paar Tagen auf Fresia, doch ihr war aufgefallen, dass die Einheimischen eine bestimmte Art zu sprechen hatten. Der alte Mann klang jedoch ganz anders und obwohl sie nicht hätte sagen können, woher er stammte, glaubte sie nicht, dass er auf dem Inselplaneten geboren war. Sein zustimmendes Nicken war Antwort genug.
“Früher war ich lieber unter Menschen.“
Sagte er plötzlich.
“Alleine zu sein hat mich nie gereizt. Das war Carms Idee von Zufriedenheit, nicht meine.“
Verwirrt starrte Giselle ihn an. Dem plötzlichen Themenwechsel konnte sie nur schwer folgen. Ohne Ankündigung sprach er von Carm Orty, dem Abenteurer der Wildnis. Doch was hatte dieser mit den Wünschen dieses Mannes zu tun? Ihre Frage musste groß in ihrem Gesicht gestanden haben, denn der alte Mann zeigte ein Lächeln und beantwortete Giselles Gedanken, noch bevor sie sie laut aussprach.
“Carm war mein Bruder.“
Sprach er im Tonfall einer sachlichen Feststellung.
“Mein Name ist Leg. Leg Orty.“
Die ganze Zeit über hatte er so getan, als sei er lediglich irgendwer. Oder hatte er dies nicht? Er hatte nichts gesagt, nichts über seine Herkunft, nicht über seinen Namen. Eigentlich hatte er ohnehin kaum gesprochen, jedenfalls nicht, so lange sie noch in der Bar gewesen waren.. Giselle schaute ihn an und versuchte, die Züge unter dem Schatten seiner Kopfbedeckung genauer auszumachen. Hätte sie sich so den wilden Abenteurer vorgestellt? Hatte er seinem Bruder überhaupt ähnlich gesehen? Sie glaubte nicht, dass sie äußerlich mehr gemeinsam hatten, als innerlich und nach dem zu urteilen, was Jem ihr erzählt hatte, waren Carm und Leg doch sehr verschieden gewesen.
„Aber, was machen Sie hier?“
Wollte Giselle wissen. Nach Jems Geschichte hatten sich die Brüder zerstritten und es war Legs Vorwurf an Carm gewesen, dass dieser zu lange von zu Hause fort geblieben war. Dass er also nun selbst hier auf Fresia anzutreffen war, dem Ort an dem sein Bruder gestorben war, schien nicht ins Bild zu passen. Leg Ortys Schmunzeln war wie das leise Sprudeln eines dynamischen Bachlaufs.
“Ich habe keine eigene Familie. Unsere Eltern sind lange tot. Als Carm gestorben ist, bin ich hierher gekommen, um ihn zu beerdigen... und hier geblieben. Er hat mir regelmäßig geschrieben, seit er damals hierher nach Fresia gekommen ist. Er hat mir von seiner geliebten Insel erzählt, von Fingers Mark, und mich um Verzeihung gebeten für die vielen Dinge, die wir einander gesagt haben. Während er lebte, habe ich ihm nie geantwortet. Ich war zu stolz, zu verletzt. Ich habe ihm Schuld gegeben, die ich nicht tragen wollte.“
Seine Stimme war ruhig, während er erzählte, obgleich Giselle sicher war, dass vor ein paar Jahren noch Bitterkeit aus ihr geklungen haben musste, wo heute lediglich Erkenntnis und Weisheit flüsterten. Er hatte gelernt, über die Jahre, und die Zeit hatte alte Wunden geschlossen.
„Und heute?“
Fragte Giselle zurück. Es war ein erstickendes Gefühl, zu wissen, dass man einander noch so viel zu sagen hatte, doch nichts tun zu können, um die Worte auszusprechen. Die Vahla wusste, wie sich dies anfühlte. Sie hatte es schon einige Male erfahren, meistens aus eigener Schuld heraus.
“Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen etwas.“
Ohne weitere Worte drehte der alte Mann sich um und stapfte durch den weichen Sand davon. Verwirrt starrte Giselle ihm hinterher und erst, als er sich noch einmal halb zu ihr umwandte und ihr mit der Hand bedeutete, ihr zu folgen, tat sie dies auch. Er humpelte voran, ein Bein nach sich ziehend und Giselle fragte sich, ob er unter einer alten Verletzung litt, oder lediglich das Alter und seine natürlichen Begleiterscheinungen ihm zu schaffen machten. Schweigend ließen sie den Strand hinter sich, die weiß getünchten Häuser, die wie stramme Felsen auf den Hügeln thronten, und hinaus an den Rand der Siedlung. Trotz seines schwachen Beines kam Leg Orty erstaunlich schnell voran und wann immer der Weg zu uneben oder das Pflaster zu holprig für ihn wurde, nahm er einen Gehstock zur Hilfe. Giselle hatte keine Ahnung, was er ihr zeigen wollte, doch als er sich eine Anhöhe hinauf schleppte, wusste sie zumindest, wohin er sie führte: eingeschlossen zwischen steilen Felsen und umgeben von knorrigen, blattlosen Bäumen, lag Hill Citys Friedhof. Er führte sie über einen schmalen Pfad, vorbei an den Reihen von Gräbern, die ein stilles Bild der Gleichmäßigkeit boten. Die Grabsteine waren alle identisch: weiße, aus Kalkstein gehauene Brocken, die sich nur durch ihre Inschriften unterschieden. Am Ende einer Reihe, blieb der alte Mann schließlich stehen und Giselle, die vorsichtig eine leise Ahnung beschlich, schaute hinunter, auf die Ruhestätte zu ihren Füßen.
„Carm Orty.“
Las sie den in Stein gemeißelten Namen. Nur wenige Gräber waren mit Blumenschmuck versehen, neben dem Namen des Abenteurers jedoch stand eine Schale aus Ton, in der ein kleiner Strauß Gundarien, denen es an Wasser fehlte, vor sich hin welkte.
“Ich komme regelmäßig hierher.“
Sagte der Bruder des verstorbenen Wanderers. Der Alte hatte ein Tuch aus seiner Tasche geholt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sonne brannte weiter ohne Gnade vom Himmel und der Hut, den er trug, verbarg noch immer den Großteil seines Gesichts
“Auch wenn er das nie mehr erfahren wird.“
Giselles Blick ruhte auf den vertrockneten Blumen. Carm Orty musste ein schweigsamer, einsamer Mann gewesen sein und dennoch verstand seine Geschichte zu berühren – dennoch, oder gerade deswegen.
„Ich bin mir sicher, er weiß es. Die Toten schauen jeden Tag auf uns herab.“
Erwiderte sie aus Überzeugung, und ob sie es sich einbildete oder nicht, in den Augen Leg Ortys schien so etwas wie Dankbarkeit aufzublitzen, bevor sein Blick zurück zu dem Grabstein wanderte, der die letzte Ruhestätte seines Bruders markierte. Giselle das Gefühl, dass er mehr sah als sie. Mehr, als irgend jemand hätte erahnen können. Der leicht lächelnde Ausdruck, der verwoben war mit tiefen Erinnerungen, war dabei längst aus seinem Gesicht verschwunden.
„Darf ich Sie etwas fragen?“
Sie hatte vorsichtig gesprochen, darauf bedacht ihn nicht zu stören, doch als er wieder zu ihr aufblickte, sah er gütig und erwartungsvoll aus.
„Haben Sie jemals daran gedacht, dass es einen Ort gibt, an dem Sie Carm noch näher sein könnten?“
Wollte sie wissen und für ein paar Minuten lang sagte der alte Mann nichts. Erst als sie schon glaubte, er würde ihr überhaupt nicht mehr antworten, holte er tief Luft, lächelte ein trauriges Lächeln und schüttelte den Kopf.
„Fingers Mark.“
Sagte er ruhig.
„Ja, Sie haben vermutlich Recht. Doch inzwischen bin ich zu alt... und als ich noch jung genug war, fehlte mir der Mut.“
Schwerfällig erhob er sich. Er hatte die letzten Minuten am Rande des schmalen Grabes gesessen.
“Es ist spät. Bleiben Sie nicht zu lange, Fresias Sonne kennt kein Erbarmen. Wissen Sie, Sie sollten sich Fingers Mark ansehen. Einst kannte ich jemanden, für den es keinen magischeren Ort in dieser Galaxis gab.“
Leise knirschten die Steine unter seinen Füßen, als sich Leg Ort langsam entfernte. Die Vahla blickte ihm schweigend hinterher. Sie war sicher, ihn wiederzusehen, früher oder später. Leg Orty hatte Recht, es war spät. Erst jetzt, da sie wieder alleine war, merkte Giselle, wie müde sie war. Ihre Augenlider wurden allmählich schwer, doch sie wollte noch einen letzten Spaziergang am Strand unternehmen, bevor sie zurück ins Hotel ging und sich schlafen legte – vermutlich dann, wenn die restlichen Bewohner Hill Citys wieder bereit waren aufzustehen. Ein letztes Mal sah sie hinunter auf die Inschrift des weißen Kalkgesteins und las den inzwischen so vertrauten Namen: Carm Orty. Als sich eine winzige Wolke vor die Sonne schob, hob Giselle überrascht den Blick und fasste in diesem Moment, ganz unbewusst, mitten in der Nacht und unter der glühenden Sonne Fresias einen Entschluss. Carm Ortys Geschichte mochte erzählt sein, doch dies musste nicht das Ende bedeuten.
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