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Unabhängig von den Akteuren und deren Treiben hat mir das "Experiment Ampel" aber eine Sache ganz deutlich gezeigt:
Medial und gesellschaftlich hat Deutschland verlernt eine ordentliche Debatten- und Konfliktkultur zu pflegen / zu erhalten. Jede noch so kleine Meinungsverschiedenheit zwischen drei sehr unterschiedlichen Parteien, die trotzdem an einer grundsätzlichen Zusammenarbeit gewillt waren, wurde von Journalisten und Bürgern gleich zum nächsten potenziellen Koalitionsbruch stilisiert. Auf der einen Seite beschwerte man sich fast ein Jahrzehnt darüber, dass SPD und CDU durch das ständige Regieren als Große Koalition profillos geworden waren (weil fast alle Meinungsverschiedenheiten in Hinterzimmern geregelt und anschließend eine Sichtweise präsentiert wurde; Merkel heimste auf diese Weise eine Menge Errungenschaften der SPD für sich ein!), aber eine offene Debatte über politisch unterschiedliche Sichtweisen und ein transparente Kompromissfindung sind dann auch wieder falsch.
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Danke! Und diese Haltung hat auch üble Auswirkungen. Frage ich meine Schüler nach der Koalition ist oft das Einzige, was man hört: „Die streiten doch nur.“ „Das ist doch nur Chaos.“ Und natürlich ist das „streiten“ immer negativ konnotiert im Sinn von „das ist falsch in einer Regierung.“
Ich bin weit davon entfernt, ein Medien-Basher zu sein. Allerdings: die ( seriösen) Medien kommen zwar in der Regel durchaus ihrem Auftrag zu bewerten, kommentieren und über die Inhalte zu informieren nach, vergessen aber mMn oftmals, dass jemand der so stolz das Label 4. Gewalt trägt und die eigene Wichtigkeit manchmal etwas exzessiv zur Schau stellt (ich denke an diverse Polit-Talk-Shows), auch in einem anderen Punkt etwas besser informieren und seine Leser(Zuschauer begleiten sollte: bei der Einordnung der formalen Prozesse und Strukturen.
Es ist bei weitem nicht jedem Wähler klar, dass der Normalzustand, wenn man entweder SPD-Leute oder Personen von den Grünen auf der einen und FDP-Politiker auf der anderen Seite in einen Raum setzt, der Streit ist. Und es ist nicht jedem klar, dass dieser Streit natürlich auch weitergeht, egal wie dick der Koalitionsvertrag ist. Diesen Zustand immer dermaßen hervorzuheben und als schädlich zu beschreiben, spielt nur den Radikalen in die Hände, die von Einheitsmeinungen träumen.
Ein anderes Beispiel ist das Thema Neuwahlen. Ich kann ja taktisch verstehen, dass die potenziellen Profiteure von Neuwahlen dauernd danach rufen, dass man für Neuwahlen sorgen müsse. Dass die Medien das aber ohne Einordnung transportieren und zu bequem sind, sich klar zu machen, dass, wenn ich einen normalen Querschnitt der Bevölkerung nehme, wahrscheinlich maximal ¼ wüsste, wie der Weg zu Neuwahlen in der BRD aussieht, halte ich für gefährlich.
Auch hier fehlt mir zu häufig eine seriöse mediale Einordnung dieses Weges und das Aufzeigen, dass es eben durchaus ein Gschmäckle nach Demokratieverachtung hat, wenn man, obwohl man durchaus noch in der Lage ist, Gesetze durchzubringen, den Kohl/Schröder-Weg wählt. Aber klar, würde man das so aufzeigen, müsste man wahrscheinlich das Wehklagen wegen des „Streits = Chaos“ etwas relativieren.
Und auch das Klagen über die schlechte Kommunikation von Parteien und/oder Regierung hat natürlich in Punkten seine Berechtigung. Allerdings fehlt zu oft die Einsicht, dass der eigene Beitrag zur Kommunikationskette beträchtlich und zu oft wie oben beschrieben nachlässig-gefährlich ist.
Wenn man sich dagegen entscheidet, solche strukturellen Gegebenheiten des demokratischen Ablaufs (die Rolle des Bundesrats wäre auch so ein Thema) für seine Leser/Zuschauer/Zuhörer aufzubereiten, man komplexe Gesetze lieber in Schlagworten abhandelt, lieber über Umfragenwerte diskutiert, das „Ausredenlassen“ in Talkshows für überflüssigen Firlefanz hält und im Wahlkampf die Frage nach einer möglichen Koalition als Krone journalistischer Hartnäckigkeit präsentiert, ist man leider ein Teil des Problems, das da „Demokratieverdrossenheit“ heißt.
Es ist einfach, den (mMn korrekten) Befund zu stellen, dass zu viele Wähler heute Social-medi-verseucht und TikTok-geschädigt sind. Sich dann aber lediglich darüber zu mokieren und über Scholz‘ Aktentasche zu amüsieren, ist ebenfalls nicht hilfreich.
Wie gesagt, Medien sollen kritisieren, wo sie inhaltlich Punkte zu kritisieren haben, sie sollen kontrollieren und inhaltlich insistieren, aber sie sollten es in einer Art und Weise tun, die Menschen, die nicht intrinsisch an der Politik und demokratischen Abläufen interessiert sind, nicht in die Arme der Demokartieverächter treibt.
Ich empfinde es zudem so, dass diese ganzen Punkte während der „Begleitung“ der Ampel-Koalition nochmal zugenommen haben und ich frage mich, woran das liegt.
Denn bei allem, was man gegen die Beteiligten Parteien haben könnte, muss man doch zugestehen, dass die Umstände hart waren. Zwei Monate nach dem Unterzeichnen des Koalitionsvertrages ist man quasi in einer anderen Welt aufgewacht.
Meine gefühlte Wahrheit ist, dass viele der professionellen Beobachter in Berlin – und hier auch die Leittiere ihrer Zunft – es Scholz immer noch nicht verziehen haben, einfach so Kanzler zu werden.
Schaut man nochmals auf die Berichterstattung 2021, hat man die SPD als völlig chancenlos gesehen und allein den Umstand, dass die SPD einen Kanzlerkandidaten stellt von sehr weit oben herab belächelt. Scholz als Kandidat war für viele in den Redaktionen, dann der Witz innerhalb des Witzes. Selten wurde Journalisten durch eine Wahl die Grenzen ihrer eigenen Expertise dermaßen aufgezeigt.
Vielleicht ist das der Grund, warum jetzt mit einem solchen Eifer davon gesprochen und geschrieben wird, dass es „endlich vorbei“ ist und „am Ende kaum mehr zu ertragen“ war (beide Formulierungen sind mir heute auch untergekommen).
Ich persönlich hoffe, dass die (seriösen) Medien nun nicht vor lauter Triumph noch auf den „schnellstmöglich Neuwahlen“-Zug aufspringen, sondern auch mal kurz innehalten und sich (und den eigenen Konsumenten, gerade den jungen!) klar machen, dass eine Minderheitsregierung zwar nicht der Alltag ist, aber eben auch kein Synonym für Chaos oder gar das Ende der Demokratie oder des Staates. Und dass es vielleicht angesichts des Umstandes, dass wohl noch nie seit 2002 bei einer BTW sicherheitspolitische Themen für die Wähler so wichtig waren, gar nicht so verkehrt ist, erst zu wählen, wenn man vier Monate lang Zeit hatte, Signale aus Washington zu sehen und zu deuten.
Zu Volker Wissing: er war jetzt nicht mein Verkehrsminister der Herzen, aber dass er jetzt die Geschichte von der aus der Regierung rausgemobbten FDP durch sein Verhalten mit einer ordentlichen Delle versehen hat, nehme ich ihm nicht übel…
Zur US-Wahl schreibe ich lieber nichts. Macht mir viel zu viele Sorgen.