Leonardo da Vinci begann 1495, im Auftrag des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza, das
Abendmahl im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie anzufertigen.
„Man sagt, der Prior des Klosters habe Leonardo sehr ungestüm angetrieben, das Werk zu vollenden: ihm schien es seltsam, Leonardo bisweilen einen halben Tag in Nachdenken verloren zu sehen; es wäre ihm lieber gewesen wenn er, gleich Arbeiter die den Garten umhacken, den Pinsel niemals aus der Hand gelegt hätte. Da ihm nicht Genüge geleistet wurde, beschwerte er sich vor dem Herzog und drängte ihn so lange, bis dieser sich gezwungen sah, Leonardo rufen zu lassen, und ihn freundlich zur Arbeit bewegte, wobei er versicherte, er tue dies nur auf die Zudringlichkeit des Priors hin.
Leonardo kannte den klaren Verstand und den Takt des Fürsten, und deshalb entschloss er sich, mit ihm über die Sache ausführlich zu reden, was er mit dem Prior nie getan hatte. Er äußerte sich weitläufig über die Kunst und machte anschaulich, dass erhabene Geister bisweilen am meisten schaffen, wenn sie am wenigsten arbeiten, nämlich wenn sie erfinden und vollkommene Ideen ausbilden, die die Hände ausdrücken und darstellen nach jenen, die schon im Geiste konzipiert sind. Zwei Köpfe, so fügte er hinzu, wären es, die ihm noch fehlten, der von Christus, nach welchem er nicht auf Erden suchen wolle, und von dem er nicht glaube, dass seiner Einbildungskraft jene Schönheit und himmlische Anmut vorschweben könne, die der menschgewordenen Gottheit gezieme; der andere sei der des Judas, über den er nachdenke. Ihm scheine es unmöglich, passende Gesichtszüge für jenen zu erfinden, dessen trotziger Geist nach so vielfach empfangenen Wohltaten des Entschlusses fähig gewesen wäre, seinen Meister, den Erretter der Welt, zu verraten; nach diesem letzteren indes wolle er suchen, und finde er nichts Besseres, so bliebe ihm der des lästigen und taktlosen Priors gewiss.
Dies brachte den Herzog sehr zum Lachen und er gab Leonardo tausendmal recht. Der arme Prior, in Verwirrung geraten, befleißigte sich, die Arbeiten im Garten zu betreiben, Leonardo aber ließ er in Frieden; dieser führte den Kopf des Judas so trefflich zu Ende, dass er das wahre Bild des Verrates und der Unmenschlichkeit ist; das Haupt Christi dagegen blieb unvollendet."