Ich hab extra eine Nacht drüber geschlafen und versuche ernsthaft, das Finale nüchtern zu interpretieren. Auf keinen Fall möchte ich jetzt über das Finale und die Serie an sich herfallen und alles schlechtreden. Lost war sechs Jahre Teil meines Lebens und es hat sich gelohnt. Irgendwie jedenfalls.
Da mein Englisch eigentlich ziemlich solide ist und ich mir anmaße, der Serie gut folgen zu können, nochmal kurz eine Zusammenfassung der Geschehnisse. Wenn dabei bereits ein Fehler drin ist, kann man mich ja drauf hinweisen und der kommende Text ist bedeutungslos.
Auf der Insel zieht Desmond in der Zauberhöhle den magischen Stöpsel. Dadurch wird Titus wieder sterblich. Dann will er mit dem Boot von Desmond fliehen und wird von Kate erschossen. Jack übergibt sterbend sein Amt an Hurley und seilt sich in die Zauberhöhle ab, um den Stöpsel wieder reinzustecken, damit die Insel nicht untergeht. Die Anderen fliehen mit dem Flugzeug und Jack stirbt. Ende.
Die gesamte ALT ist nur eine Nach-Tod-Erfahrung aller Losties, die keinerlei Einfluss auf das tatsächliche Geschehen auf der Insel hat.
Ein wenig überspitzt, meine Zusammenfassung. Aber an dieser Stelle (sprich nach Schauen des Finales) war ich geneigt loszuschreien: "Was für ein Schwachsinn."
Im Prinzip muss man wirklich den Lost-Machern gratulieren, denn diese Dreistigkeit hätte nicht mal ich ihnen zugetraut. Eine Mysteryserie, die ein riesiges Puzzle kreiert, um am Schluss zu sagen, dass das Puzzle kein Bild formt.
Die Tatsache, dass Lost so geendet ist, ist für mich der ultimative Beweis, dass die Macher keinen blassen Schimmer von der Entwicklung der Serie hatten. Man hatte die Grundprämisse (Überlebende nach FLugzeugabsturz) und einen philosophisch / mystischen Zuckerguss drüber. Alles andere hat sich so nach und nach ergeben und die ständigen Sprünge von den bereits in der ersten Staffel etablierten Kernproblemen (Monster / Walt / Dharma) hin zu im Nachhinein wirklich völlig überflüssigen Storybögen (Widmore / Frachter / FFs / Zeitsprünge) sind ein guter Beweis dafür.
Lustig finde ich das Argument der Autoren, es kam ja nie auf die Rätsel an, sondern nur auf die Charaktere. Klingt gut, könnte sich aber für eine Mysteryserie als nachteilig herausstellen. Da wird über sechs Staffeln die Frage aufgebauscht "Wo kommen die Brötchen her?" und als Antwort wird gesagt "Vom Bäcker. Aber es ging ja nie um die Brötchen, sondern um den zurückgelegten Weg hin zum Bäcker."
Imo leidet die sechste Staffel an einer gravierenden dramaturgischen Schwäche: Nämlich dass die ALT keinen, aber auch gar keinen Einfluss auf die Haupthandlung hat. Das ist ein Grundprinzip von Lost, dass die Nebenhandlung (FB / FF) die tatsächliche (Insel-) Handlung unterstützt und spiegelt. Die erste Staffel hat dies meisterhaft verstanden, in dem Taten der Losties in der Vergangenheit und die damals getroffenen Entscheidungen auf der Insel wiederholt wurden, nur dass sich die Losties diesmal richtig entschieden haben. Jeder hat sich auf der Insel zu einem besseren Menschen entwickelt und durch die Verknüpfung der Zeitebenen wirkte Lost komplex und durchdacht.
Nur war diese Charakterentwicklung (die die Macher so anpreisen) bereits mit der zweiten, dritten Staffel abgeschlossen.
Das Prinzip Nebenhandlung unterstützt Haupthandlung wurde dann in der vierten Staffel aufgegeben, zugunsten der konfusen und überflüssigen FFs. In der fünfsten Staffel kamen dann die haarsträubenden Zeitsprünge dazu, die immerhin den netten Nebeneffekt hatten, ein wenig detaillierter die Dharma-Mythologie zu ergründen. Zwar wurde auf intelligente Antworten verzichtet, aber es wurde ein sehr schöner Zirkelschluss gebildet.
Und im Nachhinein muss man sagen, dass das Finale der fünften Staffel eigentlich das bessere Ende ist: Die Losties lösen den Unfall selbst aus, durch den sie auf die Insel gekommen sind; der Kreis schließt sich, WHH, Peng, Aus.
Staffel Sechs hat nicht mehr viel hinzugesteuert: Ein streitbares Bruderpaar, unnütze Templer und eine an den Haaren herbeigezogene innere "Logik" der ganzen Problematik.
Zum Schluss noch die losen Enden:
Walt war nie wieder relevant.
Smokeys Verhalten über die Staffeln verteilt war völlig willkürlich.
Die Entführung von Jack, Kate und Sawyer durch die Anderen.
Warum konnten Frauen nicht schwanger werden?
Widmores genaue Absichten mit dem Frachter.
Jacobs Handeln zur Suche eines Nachfolgers.
...
Das Schöne ist, dass jetzt zweifellos die Argumentationen kommen, dass man selber nachdenken soll / kann und Lost philosophisch tiefgründig ist und die Geheimnisse nicht bis zum letzten Fetzen aufgedröselt werden.
Alles richtig.
Aber trotzdem liegt es in der Pflicht der Autoren, ihre Serie mit einer "offiziellen" nachvollziehbaren und schlüssigen logischen Struktur zu verstehen. Und erst nach diesem Schritt kommt dann der Zuschauer und bildet sich seine eigene Meinung und Auslegung.
Eine Szene aus dem Finale trifft imo den gesamten Erzählstil der Folge, wenn nicht gar der ganzen Staffel oder der Serie überhaupt:
Ein bruchgelandetes Flugzeug fährt rückwärts und startet auf einer Sandpiste, die bereits für die Landung zu kurz war.
Poetischer geht es nicht mehr.