Ich denke, eines ist ganz wichtig festzuhalten für die Diskussion: soweit ich es wahrgenommen habe, hat niemand hier den Versuch angestellt, "objektiv" zu wirken oder seine Meinung als allgemeingültige Wahrheit darzustellen. Auch die Kriterien, was / ab wann etwas eine Mary Sue ist, sind keineswegs klar definiert, sondern ganz im Gegenteil eher schwer greifbar, da eben für jeden anders. Ich bin jetzt auch nicht übermäßig bewandert in ihrer Begriffsgeschichte, bzw. weiß nichts darüber, was nicht jeder andere hier mit wenigen Minuten googlen auch herausfinden könnte. Ich kann nur von meiner persönlichen Erfahrung damit berichten, dass es einfach schon seit ich das EU konsumierte in meinen Augen Charakterzeichnungen gab, die mir einfach überhaupt nicht gepasst haben. Prägend dafür war sicherlich, dass ich von Kindesbeinen an immer die OT als die große Messlatte hatte, mit der sich jedes Bei- und Nachfolgewerk messen muss. Das hat schon mal allem EU-Content gegenüber einen grundsätzlich benachteiligenden Charakter, weil Star Wars für mich einfach ein pures Filmmedium ist. Ich brauche nicht nur die Figuren, die Geschichte, die Kämpfe, ich brauche auch alles was in der Skywalker-Saga dazugehört: die Bildgewalt, die visuellen Effekte, das charakteristische Sounddesign, die berührende Musik von John Williams, und ja, sogar die dazugehörigen Synchronsprecher. Klar, dass bei einem Buch, wo der größte Teil dieser medialen Inszenierung einfach mal komplett wegfällt, der Wow-Faktor für mich halt deutlich geringer ist. Wie dem auch sei, jedenfalls gab es über die Jahre zunehmend Charaktere, deren Aufbau und Darstellung mir einfach nicht gefallen wollte. Der Gipfel diesbezüglich war für mich wohl Corran Horn. Eine Figur, deren Autor sogar ein ganzes Buch über ihn aus der Ego-Perspektive geschrieben hat, in der er seinen Werdegang als Jedi beschreibt. Das alleine war schon äußerst suspekt, aber das Hauptproblem war, dass ich einfach den Charakter nicht ausstehen konnte. Corran Horn wirkte wie ein, man entschuldige meine Ausdrucksweise, schleimscheißiger Emporkömmling auf mich. Die Art von Arbeitskollege, der neu in der Firma auftaucht und gleich an seinem ersten Tag ungebetene und unqualifizierte "Tipps zur Produktivitätssteigerung" gibt. Was waren die Probleme mit Corran Horn? Nun, mal sehen... er war ein toller Pilot, der eines Tages entdeckte, dass er empfänglich für die Macht ist. Wie sich später herausstellt, war sein Vater ein großer Jedi in den Klonkriegen. Von ihm erbt Corran auch sein Laserschwert – mit silberner Klinge. Aber Corran Horn hat eine große Schwäche! Er hat kein Gespür für Telekinese wie andere Jedi, das heißt, er kann Objekte nicht mit Hilfe seiner Gedanken bewegen! Seine größte Schwachstelle ist, dass er in dieser Hinsicht leider nur wie ein normaler Mensch ist, oh nein! Aber aufgeatmet: Corran Horn kompensiert diese Schwäche, weil er dafür eine andere, extrem seltene Gabe hat, nämlich die Macht der Energieumleitung. Dadurch können ihm zB Elektroschocker nichts anhaben. Ein wirklich rares Talent, das alle, die es an ihm erkennen, in Erstaunen versetzt, inklusive Großmeister Luke Skywalker. Corran Horn ist also als Jedi doch durchaus wertvoll, und wie erwähnt ein guter Pilot. Außerdem hat er eine Ausbildung einer CorSec-Spezialeinheit! Auch recht praktisch. Und obendrein, wie ihm andere Charaktere, die ihn umgeben, attestieren, sieht er auch ziemlich gut aus, na was für ein Glück...
Fällt beim Lesen was auf? Ich konnte es früher, vor einigen Jährchen, nie besser ausdrücken als zu sagen, dass ich die Figur halt einfach nicht ab kann. Diese absolut plumpen Versuche, den Charakter irgendwie besonders und erzwungen interessant zu machen, ihn beim Leser regelrecht anzubiedern... bwah. Absolut unterirdisch, in meinen Augen. Und Corran war nicht der einzige, mir fiel dieser Schreibstil dann durchaus noch einige Male auf. Einfach Figuren ohne jedes Feingefühl, ohne jede Dezentheit. Und irgendwann, eines Tages, stieß ich im Internet auf den Begriff "Mary Sue" und suchte nach den Ursprüngen bzw. der Bedeutung dahinter. Und es war ein Augenblick der Epiphanie, das nachzulesen, weil ich mir einfach nur von so vielen Fällen dachte: "JA! JA! Genau DAS ist das Problem! Genau SO liest sich dieser furchtbare Charakter, das trifft es perfekt!". Das bedeutet ja nicht, dass eine Mary Sue jeden einzelnen Punkt der Eigenschaften-Checkliste abhaken muss. So spielt es bei Rey beispielsweise überhaupt keine Rolle, ob sie eine Wunscherfüllung des Autors ist (ist sie nicht). Und wie schon an anderer Stelle mal angemerkt, ist es sogar egal, ob man sie jetzt eine Mary Sue nennt oder irgendwie anders. Das ist nur im Kontext von diesem Thread von Bedeutung, weil es halt die Ausgangsfrage des OP war, für die Charakterisierung ist der genaue Begriff aber ziemlich irrelevant. In dem englischsprachigen Forum, das ich kritisiert habe, benutze ich aufgrund der dortigen politischen Konnotation, so unheimlich dämlich ich sie persönlich auch finde, den Begriff auch nicht mehr; das verändert aber meine Kritik an Rey in keiner Weise, es nötigt mich lediglich dazu, dieselben Kritikpunkte mit mehr Worten und Gefasel zu umschreiben. Und diese Kritik ist am Ende des Tages einfach, dass ich die Person nicht so gut nachvollziehen und mich schlecht in sie hineinfühlen kann. Bzw. kann ich es vielleicht sogar, es ist nur nicht sonderlich spannend. Ich fiebere mit Rey nicht wirklich mit (TROS möchte ich diesbezüglich jedoch als positive Ausnahme hervorheben, dort fand ich sie am besten charakterlich). Meine Lieblingsfiguren von der neuen Riege sind nicht umsonst Poe und Finn. Jetzt könnten bei einem natürlich die Alarmglocken schrillen und man mich dessen bezichtigen, dass ich männliche Charaktere dem weiblichen vorziehe und das nur aufgrund des Geschlechts sein kann, dass ich generell Probleme damit hätte, weibliche Protagonisten zu akzeptieren und mit ihnen mitzufühlen. Das kann ich aber wiederum nicht bestätigen, weil ich in anderen Fiktionen durchaus auch weibliche Protagonisten sehr gerne mag. Ellen Ripley, Avatar Korra und andere, die zu meinen Favoriten zählen. Wenn ich Korra und Rey vergleiche, kommt mir Erstere aber halt so unendlich viel näher, charakterlich überzeugender vor. Und das, ohne dass sie in ihrer Stärke oder in ihrer Weiblichkeit irgendwie einbüßen müsste.
Warum spielt das jetzt alles aber dann überhaupt eine Rolle, wenn es keinen Anspruch auf Objektivität geben kann und sowieso alles Geschmacksfrage ist? Weil es Rückschlüsse zu ziehen erlaubt über den Zustand des Franchise, denke ich. Ich war zwar nicht live dabei, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass damals aus TESB besonders viele Leute aus dem Kino gekommen sind und gedacht haben, es ist ihnen eher egal, wie es mit Luke Skywalker weitergeht und was weiter passiert. Nach TLJ habe ich aber etwas erlebt, was in der Form für mich neu in diesem Fandom war: dass viele Fans einfach einen großen Teil an Interesse verloren hatten. TLJ hat solch eine Beliebigkeitskeule geschwungen, in der Bösewichter abserviert werden können ohne überhaupt richtig beleuchtet worden zu sein und alles passieren kann, ohne dass es eine echte Konsequenz hat, dass irgendwie die Spannung darunter gelitten hat. Auch ich ging aus Episode 8 und war damals einfach in keiner Weise besonders gespannt mehr darauf, wie es weitergeht. Mir war Reys Schicksal einfach egal, weil ich wusste, dass ihr eh nichts Ernstes passiert und sie im Zweifel eh alles kann. Die alten Chars, die mir mehr bedeuteten, waren schon tot oder dem Tode geweiht. Die Luft war irgendwie raus. Schade. Und wenn es einer auffallenden Anzahl an Fans so geht, dann finde ich das problematisch. Gut, auf der anderen Seite bekleckert sich TROS nun auch nicht mit Ruhm und wird viel kritisiert, also kann man es eh nicht allen recht machen. Ich persönlich finde es schade, wenn ich mit Rey als Protagonistin einfach nicht wahnsinnig viel mitfühlen konnte. Das hat viel Spannung gekostet. Wir können auch gerne die Begrifflichkeit der Mary Sue ruhen lassen und uns auf eine andere Bezeichnung für sie einigen: eine Rey. Hier kann dann auch jeder wieder mit der Subjektivität zulangen und sagen, ob er es mag, wenn seine Protagonisten eine Rey sind oder nicht. Ich mag's eigentlich nicht. Weil es mir zu wenig Ecken und Kanten sind und zu wenig Identifikationspunkte. Aber wenn es für jemand anderen klappt, wer wäre ich, dieser Person das Recht abzusprechen, mit seinen Reys glücklich zu werden?