[Ryloth – Nachtseite – Morla’un – unterirdisches Labor – Torryn, Tier, Iouna ]
Ihr Mund war leicht geöffnet, als Torryns warmer Atem in sie floss, wie heiße Milch, und dann weiter die Kehle runter, ungehindert und erwünscht in ihren Körper strömte er, verdrängte die starre Kälte, die sie vor nur wenigen Sekunden fast getötet hätte. Wie eine Ertrinkende schlug sie die Arme um seinen Hals, klammerte sich an seine Schulter, und schluckte gierig die geradezu sprudelnde Lebensenergie aus seinem Mund.
Endlich erreichte die wohltuende Wärme auch ihre Fußspitzen. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich sogar unter ihren Zehnägeln aus, vorsichtig lächelte sie in Torryns zarten Mund. Und als ob er in diesem Moment die Veränderung ihrer Körperspannung gespürt hätte, atmete er mit einer neuen Kraft in sie noch einmal ein, dann zum letzten Mal aus, um sich dann von ihren Lippen rasch zu lösen. Fröstelnder Ekel schüttelte ihn und er kämpfte gegen eine starke Übelkeit. Schließlich würgte er. Und dann würgte er den Giftstoff doch noch heraus, dieses Gift, diesen Dreck, diesen Beinahe-Tod. Genau diesen würgte er heraus und damit auch den ganzen Schmerz von Ian, der sich in ihrem Innerem so glasklar spiegelte. Es war Ians Schmerz, sich tausendfach wiederholend. Die mit Sorgfalt von ihr imaginierte, gespiegelte Angst und Abscheu und Hass gegen alles und allen und gegen sie und sich selbst. Als Torryn das alles auskotzte, geschwächt von der Anstrengung, überfiel sie eine unbeschreibliche Traurigkeit.
Sie konnte Ian nicht leiden sehen, sie sah ihn jetzt nicht mehr, sie dachte und erinnerte sich nicht mehr an ihn. Sie konnte aber auch Torryn nicht leiden sehen und wandte den Kopf ab, aber es half nicht, denn sie schämte sich. Sie fremdschämte sich. Das alles hatte Torryn nicht verdient. Er sicher nicht. Er hätte sie nicht retten sollen. Nicht für sie, nicht wegen Ian. Schamgefühl legte sich auf ihre Brust, aber fremdschämte sie sich noch mehr für Ian, für Torryns Meister, und noch viel mehr für den stinkenden Jungen mit den Drecksfüßen von damals.
Torryn hatte sie jetzt aus dem tiefsten Abgrund herausgezogen, ohne zu zögern und das trotz Ian, möglicherweise wegen Ian, vielleicht sogar gegen Ian. Gleichzeittig waren die Gründe in diesem Fall völlig belanglos. Nun wie peinlich, wie unendlich peinlich und beschämend, war es für sie, nicht nur sich so zu vergessen, sondern auch ihn, ihren Torryn, für den sie auf einmal so viel Seltsames fühlte. Alles um sie herum, aber vor allen Dingen hatte sie sich selbst vergessen, was sie in jeglicher Hinsicht als am Beschämendsten empfand. Hemmungslos ließ sie sich nun gehen, gab sich willig der Kälte hin, alleine in Ians Schmerz ließ sie sich fallen wie in warmes Bett, in ihr eigens vorbereitetes Bett. Ein kaltes Bett ohne Wärme.
Noch mühsam und schwer erhob sie sich, um zu stehen. Sie lehnte sich mit dem nach hinten gebeugten Kopf an die Wand und schloss die Augen. Die Empfindung kehrte nur sehr langsam in ihre Glieder zurück, ihre Beine zitterten vor Anstrengung und sie hatte immer noch das Gefühl gleich wieder die Kraft zu verlieren. Sie sollten sich jedoch beeilen. Sie sollten von hier so schnell wie möglich verschwinden. Bevor alles über sie zusammenbrach. Unter sich begrub.
Auch Torryn richtete sich auf. Er wirkte erschöpft. Sein Gesicht war bleich. Aber seinen dunklen Blick erkannte sie. Das Vertrauen erkannte sie. Etwas, was sie nie für möglich gehalten hätte. Nie erwartet. Er starrte sie mit einer erschütternden Intensität weiterhin an. Sein Blick ruhte auf ihr, als ob er ihr damit etwas erzählen wollte. Und dann verstand sie. Es war ein Ian vertreibender Blick, ein Ian einsperrender, und wenn es sein müsste, dann sogar im Schrank. Am wichtigsten war für sie, dass sie dadurch das Gefühl bekam, dass Ian meilenweit entfernt von ihr war, nur damit sie atmen konnte, damit sie endlich leicht wie Luft sein konnte, wie ein Windhauch, wie eine Meeresbrise auf Naboo, entmenschlicht, engelhaft, entkörpert, fiktionalisiert, Ian-frei. Er würde Ian aus ihrem Inneren wie einen Holzsplitter herausgeziehen, wenn er nur könnte, wie einen kranken Zahn.
Unbedingt wollte sie ihm noch etwas sagen, Worte sagen, und es sollten nicht nur Dankensworte sein, denn alleine darum ging es gar nicht mehr. Sagen wollte sie, aussprechen, formulieren, wie sie ihn brauchte, wie nah sie sich ihm fühlte, wie sehr sie ihn bewunderte und noch etwas mehr, sogar viel mehr, denn alleine sein Atmen, seine bloße Existenz erweckte in ihr eine Empfindung, ein Bewusstwerden einer Empfindung, die nur ihm gehörte, die zu ihm wollte und zu sonst niemandem.
Wie sie selbst zugeben musste, war dies ein so ungeheuerliches Gefühl für jemanden wie sie, ein bisher nie gekanntes, nie akzeptiertes, also ein völlig fremdes, manchmal empörendes, sonst aber unerlaubtes, anmaßendes und immerhin ein noch sehr gefährliches.
Und dann noch würde sie am liebsten aufspringen und ihn auf den Mund küssen, sich an seinen Mund festsaugen, die Bitterkeit aus seinen Lippen trinken, ihre eigene, restliche Ian-Bitterkeit, die noch daran klebte, sich betrinken, um sich sich von der klebrigen Masse zu reinigen. Reglos blieb sie aber stehen und starrte ihn stumm an, und war ihm nur dankbar, und noch einmal dankbar, als er die Stille und die Reglosigkeit unterbrach und anfing zu sprechen. Von Gliterryll.Von dieser Droge des Vergessens, denn der Ansatz stimmte ganz genau: wegen des Vergessens waren sie hier. Wegen der Zeugen auf Telos, wegen dem Kind Stella, wegen Ian, wegen ihm allein. Genau das durfte sie nie vergessen, aber sie vergaß es immer wieder.
Iouna sah sich um. Sie standen direkt vor dem Eingang zum Labor. Entriegelungsfelder. Schnell sollten sie sein. Schnell sollten sie diesen schrecklichen Ort verlassen. Aber bevor sie den Code eingab, trat sie noch einen halben Schritt zurück, nur diese wenigen Zentimeter, die aber reichten, um Torryns Unterarm mit dem Ellbogen zu streifen. Für den unmerklichen Bruchteil einer Sekunde spürte sie seine Körperwärme und fühlte seinen wärmenden Atem in ihrem Nacken, einen kleinen Atemzug, der über ihre Haut strich. Mehr wollte sie gar nicht. Sie trat wieder einen Schritt vor und gab mühelos die Tastenkombination ein.
Die Tür öffnete sich und der süßliche Geruch nach Tod drang in ihre Nase, reizte ihre Nasenschleimhaut und sie fühlte wie ihr der Speichel in die Mundhöhle lief. Sie schüttelte den Kopf und zog die Luft ein, ließ sich von dem Ekel mitziehen, schöpfte Kraft, verwandelte sie in Wut, Widerstand, Beharrlichkeit, die ihr noch fehlten. Beeilen sollten sie sich. Irgendwas stimmte hier nicht. Hinter den grünen, undurchsichtigen Energiefeldern erblickte sie Lebewesen, die sich schwerfellig und riesenhaft wie Schatten bewegten. Die Spinnen.
Torryn setzte sich an den Rechner und begann hastig zu tippen. Sie blieb hinter seinem Rücken stehen und betrachtete seine langen Finger, die über die schnell über die Tastatur huschten. Sie lächelte seltsam berührt, dann glitt ihr Blick zum Bildschirm. Stop! Sie drückte Torryns Schulter, als ob sie ihn damit aufhalten wollte, dann ging sie um ihn herum und setzte sich rittlings auf ihn. Auf Torryns Schenkel. Gerade als sie die Tastatur berührt hatte, stieg eine quälende Hitze in ihren Bauch. Als ob Torryns Körper, sein Schenkel alleine, auf sie ausstrahlen würde. Sie fühlte die Härte seiner Muskeln. Die unbeirrte Wärme. Schmunzelnd beugte sie sich etwas nach vorne und versuchte sich trotzdem nur auf das Display zu konzentrieren. Diagrame. Als erstes sollten sie also das Stasisfeld abschalten. Dann rutschte sie doch noch enger an Torryns Schoß und umklammerte fest sein Bein mit ihrem Innenschenkel. Ein warmes Kribbeln ergoss sich schnell über ihren Körper und sie keuchte auf, als sie Torryns schnellen Atem vernahm. Verwirrt starrte sie auf das Display. Dann gab sie auf, warf sich nach hinten. Sie fühlte auch sein Verlangen, deutlich, unmissverständlich und drehte ihren Kopf zu ihm, den Mund öffnend. Ihre Lippen begegneten sich, und wie gut er jetzt schmeckte, nicht mehr bitter. Sein Geruch vermischte sich mit dem Geruch der Verwesung. Verlangen. Immer stärker. Als Torryns Hand sich auf ihrer Brust legte, begann ihr Körper vor Verlangen zu zittern. Unkontrolliert schlugen ihre Finger gegen die Tasten. In dem Moment krachte etwas gewaltig, ein markerschütterndes Kreischen erfüllte den Raum. Iouna sprang zur Seite, zuckte die Ionenwaffe, zielte auf die erste sich auf sie zubewegende Spinne und drückte ab. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall und im gleichen Moment riss Torryn sie unter den Tisch, wo sie sah, wie tausende, blitzende Splitter durch den Raum schossen. Das laute Kreischen verwandelte sich in ein jämmerliches Geheule.
Torryn packte sie am Nacken und drückte sie mit der Hand unter den Tisch. Fast im gleichen Atemzug warf er sich auf sie, um sie vor den Splittern zu schützen, die chaotisch durch den Raum flogen. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Hielt den Atem an. Wenn er nur wüsste, wie seine Nähe sie durchdrang, jedes Mal durchdrang, wenn er ihr Nahe war und damit auch diese unsägliche Wärme seines Körpers, seines Atems. Wenn er nur wüsste, was für eine verzehrende Sehnsucht sie nach ihm hatte. Immer mehr. Jeden Tag mehr. Jeden Tag stärker. Wie zufällig trafen sich ihre Blicke. In seinen Augen erkannte sie eine unergründliche Einsamkeit. Eine Grube der Einsamkeit. Sie blinzelte kurz. „Lass uns dahin gehen“, raunte sie leise und streifte mit der Fingerkuppe über seine Wange. Dieser Finger, der Zeigefinger ihrer rechten Hand zitterte. Er lächelte sie an, aber während das schreckliche Kreische langsam erstarb, ließ er sie los und kroch unter dem Tisch hervor. Er stand auf. Sie konnte erkennen, wie er etwas von dem Tisch nahm. Kleine Container mit Ampullen. Das Glitteryll, das er sorgsam in einer seiner Tasche verstaute. Sie sollten sofort verschwinden.
Der Geruch war mittlerweile unerträglich geworden, rasch liefen sie aus dem Labor und nahmen den anderen Gang, den, der direkt zum Hangar führen sollte. Während sie immer weiter rannten, rangen sie nach Luft.
Schwer keuchend und schweißnass, aber sichtlich erleichtert, erreichten sie den Hangar. Ihre Mission auf Ryloth war beendet. Sie hatten es geschafft. Sie beide. Torryn und Iouna. Glücksgefühle. Ein Rausch der Gefühle. Iouna lachte laut auf und drückte Torryns Hand fester. Sie hatten es geschafft. Sie lebten. Und zwar alle drei lebten sie. Denn vor einem der drei Raumschiffe wartete schon Ian. Er war unverletzt. Unversehrt. Ein Fuß auf die Rampe gesetzt. Doch er hielt noch einen Moment inne und sah die beiden an. Betrachtete sie. Mit einer beunruhigenden Eindringlichkeit. Unter diesem Blick erstarb Iounas Lächeln, ihr einziges Lächeln, das Torryn galt. Augenblicklich erfroren ihre Züge. Wäre bloß Ian nicht da. Wenn Ian nur nicht da wäre. Aber Ian war da. Natürlich war er da und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Er sah sie an, dann glitt sein Blick zu Torryn, dann wieder von Torryn zu ihr. Ein unergründlicher Blick, ein Blick voller Misstrauen und Strenge.
Diese herbe Erkenntnis, dass er ihr niemals vergeben würde, traf sie mit einer erneuten Kraft. Diese verdammte Erkenntnis, die keine einfache Erkenntnis mehr war, und gar keine leise aufkeimende Erkenntnis, sondern eine felsenfeste Gewissheit, eine unerschütterliche Grundwahrheit, bitter wie Tränen und traurig. Ian würde ihr niemals vergeben. Niemals. Wie aus der unergründlichen Tiefe ihres Inneren glaubte sie ein wutgeladenes Knirschen ihrer eigenen Zähne zu hören und ballte darauf automatisch die Hände zu Fäusten.
Sie sollten sich beeilen, rief Ian schließlich und verschwand bald im Raumschiff. Sie folgten ihm. Iouna immer noch hinter Torryn, der Kopf, den Blick von Ian abgewandt. Er durfte nichts erraten, nicht ihre Gedanken, nicht ihre Gefühle, auch nicht ihre eigenen, ihn betreffenden, diese schrecklichen Gefühle, aber vor allem nicht diese, die ausschließlich Torryn galten. Die durfte er nicht mal erahnen.
Als die Tür der Schleuse sich hinter ihnen krachend schloss, lief Ian direkt zum Cockpit und umgehend setzte er das Schiff in Bewegung. Beruhigt beobachtete Iouna wie Morla’un in dem eiskalten, düsteren Nebel der Nachtseite von Ryloth allmählich verschwand. Auch Ian schien irgendwie zufrieden zu sein, denn um seine Lippen spielte überraschend ein leises Lächeln. Schmunzelnd legte Iouna ihren DEMP2 ab, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und kreuzte die Arme vor der Brust. Selbstverständlich gab es einen Grund zur Freude. Sie hatten die Mission erfüllt, sie, Torryn und Iouna, sie hatten das Glitteryll gefunden. Eine durchaus gelungene Mission.
Sie würden das Training fortsetzen und dann weiter sehen, erklärte Ian, bevor er ergänzte, dass sie zu tun hätten, was zu erledigen sei. Also sie beide meinte er, das Doppelpack - Torryn und Iouna. Hatte er ihr doch noch verziehen, warum schickte er sie beide weg? Warum wollte er nicht mitkommen? Vergebung? Was für ein dummes Wort. Was für ein seltsames, was für ein unmögliches Wort, das nicht zu Ian passte. Das nicht zu Iouna passte.
Alleine sein Gesichtsausdruck, der abweisende Ausdruck seiner Augen, sein Blick. Sein immer nach innen gekehrter Blick, der ausschließlich nach innen schaute und deshalb ihr etwas Angst machte. Vergebung. Warum sollte er ihr vergeben? Das würde ihm nichts bringen, keinen Vorteil, also warum sollte sie dann noch Hoffnung haben, warum sollte sie es sich so vergeblich wünschen? Denn nicht sie meinte er jemals. Nicht sie sah er an, höchstens an ihr vorbei. Weder damals noch jetzt. Niemals würde er ihr also vergeben. Niemals dem Kind und der Frau, zu der sie wurde. Diesen Wunsch sollte sie endlich begraben. Und auf einmal waren seine Anwesenheit, alleine seine Präsenz, seine Atemzüge, sein Geruch, seine eingebildete, unwahre Omipotenz kaum auszuhalten für sie, und sie wusste auf einmal nicht mehr, ob sie seine erzwungene Vergebung immer noch wollte. So fremd kam er ihr plötzlich vor, völlig unbekannt. Fünf Schritte trennten sie von ihm. Diese kleinen Schritte zu gehen wäre nicht viel. Fünf Mädchen-Schritte, dann wäre sie nah am Ian, so nah, dass sie ihm tief in die Augen schauen könnte, vielleicht würde sie ihn dann doch wieder erkennen.
Bei der „Silver Spear“ setzte Ian die beiden ab, um alleine nach Bastion weiter zu fliegen. Verständnislos blickte Iouna zu Torryn. Aber dann plötzlich entflammte in ihr eine nahezu unerträgliche Lust, sich noch einmal umzudrehen. Auf Ian zuzugehen. Ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Oder ihm gegen das Schienbein treten, kräftig, das es brach. Oder ihm Salzwasser ins Gesicht zu spucken, um ihn zu blenden.
Sie spürte, wie ihr Tränen der Verzweiflung und Machtlosigkeit in die Augen stiegen. Doch bevor sie den Fuß auf die Rampe setzte, um zu gehen, drehte sie sich doch noch einmal zu Ian um und wartete, wartete bis sich ihre Blicke trafen. Dann lächelte sie, offen, freundlich und sagte relativ leise, aber immer noch so laut, dass Ian es hören musste:
„Versager.“
Erst nach diesem einen Wort ging sie die Rampe herunter.
[Ryloth – Nachtseite – bei der Silver Spear – Torryn, Ian, Iouna ]