Die Debatte gab es ja auch schon im Kontext des Falls der Islamischen Republik Afghanistan. Damals wurde unter anderem auf die - milde formuliert - kärgliche Leistung der afghanischen Sicherheitskräfte, die Korruption, als problematisch angesehene Werte und Normen und den Opportunismus verwiesen, die von einigen als kennzeichnend für die afghanische Gesellschaft und damit auch die Flüchtenden bezeichnet wurden. Darüber lässt sich natürlich trefflich diskutieren, aber der wichtige Punkt ist: Das Grundgesetz schreibt vor, dass jeder das Recht hat, um Asyl zu bitten. Ob und in welcher Form dieses gewährt oder auch beendet wird (z. B. aufgrund von schweren Straftaten, Spionage, Sabotage, verfassungsfeindlichen Umtrieben etc.), ist nochmal eine andere Geschichte, aber auch dafür gibt es gesetzliche Regelungen. Das sind die Gesetze und der ethische Rahmen, und was für Afghanen gilt, sollte auch für Russen gelten.
Vom moralischen Aspekt einmal abgesehen, ist jeder russische Staatsbürger, der die Russische Föderation verlässt, einer weniger, der direkt für Putins Kriegsmaschinerie eingespannt werden kann. Dass z. B. die baltischen Staaten skeptisch sind, weil die gezielte Ansiedlung von Russen und deren Instrumentalisierung als "bedrohte Minderheit, die Russlands Schutz bedarf" schon seit Zarenzeiten üblich sind, ist verständlich, aber dieses Argument kann Deutschland nur schwerlich vorbringen. Wir sollten als Gesellschaft schon noch in der Lage sein, diese Herausforderung zu stemmen - es ist ja nicht so, dass Deutschland nicht zeigen kann, dass es Alternativen zu dem Staatsmodell Putins gibt. Und natürlich wird es Russen geben, die trotzdem weiter dem Diktator huldigen, so, wie es nicht wenige Deutsche ohne den entsprechenden Migrationshintergrund gibt, die das tun.
Der große Knackpunkt der russischen Gesellschaft ist, dass sie schon seit Sowjetzeiten (und de facto auch schon zuvor, aber mit weniger modernen Methoden) ganz gezielt atomisiert und abgestumpft wurde. Das System Putin stützt sich auf folgende Säulen:
1. Es gibt keine objektive Wahrheit, nur unzählige Erzählungen und Versionen. Der Kreml haut schamlos dutzende verschiedene Lügen und Halbwahrheiten heraus, und dass nicht, damit sie gänzlich geglaubt werden, sondern zu dem Zweck, die Wahrheit zu begraben und das Wasser zu trüben, damit die Menschen einfach nicht mehr wissen, was und wem sie glauben glauben können, und in Apathie und Zynismus verfallen. "Es lügen doch eh alle." "Wer weiß schon, was stimmt." In einer Gesellschaft, die seit 1917 systematisch bis ins kleinste Detail belogen und von Propaganda geblendet wurde, verfängt so etwas leicht.
2. Das kleinere Übel ist das Beste, worauf man hoffen kann. Niemand ist wirklich "gut", die anderen sind nicht besser, und wer Veränderungen anstrebt, tut dies aus niederen Motiven. Es gibt einen tief verwurzelten Zynismus, der zum Beispiel das Konzept der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit als bloße hohle Worte ansieht. In dieser Vorstellungswelt ist der Autokrat, der natürlich auch korrupt ist, aber immerhin "seine Arbeit macht", scheinbar besser als die Alternativen. Dieser Narrativ bröckelt angesichts der militärischen Rückschläge in der Ukraine gerade am stärksten.
3. Es lohnt sich nicht, etwas ändern zu wollen. Apathie ist die dritte große Säule des Regimes Putin. Im Grunde bot er seit den 2000er-Jahren einen Deal an: Die Bürger halten sich aus der Politik heraus und lassen ihn und seinen inneren Kreis machen, im Gegenzug erhalten sie einen Anteil an dem (relativen) Wohlstand und der (relativen) Sicherheit nach den chaotischen 90er-Jahren und "hatten ihre Ruhe". Dieser bequeme Zustand hat spätestens seit der Teilmobilisierung eine erheblichen Rückschlag erlebt.
4. Früher war alles besser. Nicht zuletzt der Krieg gegen die Ukraine speist sich aus einer trügerischen Nostalgie für die Sowjetzeit und das Zarenreich. Sicher, es wurden Millionen Menschen deportiert, inhaftiert und ermordet, aber: Was waren wir damals mächtig und gefürchtet! Die Welt hat uns nicht geliebt, aber respektiert - diese Gedankengänge sind vielen Russen, gerade älteren Jahrgängen, nicht fremd.
Es ist diese Mischung, zusammen mit dem ausgefeilten Unterdrückungsapparat (in dem Putin als mittlerer Funktionär ja seine Sporen verdient hat), die Widerstand, Protest und Aufstand so schwierig machen. Die Flucht ins Ausland ist da für viele Russen noch die Option, die sie am ehesten sehen und verwirklichen können.
Dramatische Veränderungen in Russland selbst sehe ich erst nach einer deutlichen, selbst durch die stärkste Propaganda nicht zu leugnenden militärischen Niederlage in der Ukraine und einer weiteren Verschlechterung der Lebensumstände. Gerade ersteres war in schon 1905 und 1917 der Antrieb für Proteste und Umstürze.
Vom moralischen Aspekt einmal abgesehen, ist jeder russische Staatsbürger, der die Russische Föderation verlässt, einer weniger, der direkt für Putins Kriegsmaschinerie eingespannt werden kann. Dass z. B. die baltischen Staaten skeptisch sind, weil die gezielte Ansiedlung von Russen und deren Instrumentalisierung als "bedrohte Minderheit, die Russlands Schutz bedarf" schon seit Zarenzeiten üblich sind, ist verständlich, aber dieses Argument kann Deutschland nur schwerlich vorbringen. Wir sollten als Gesellschaft schon noch in der Lage sein, diese Herausforderung zu stemmen - es ist ja nicht so, dass Deutschland nicht zeigen kann, dass es Alternativen zu dem Staatsmodell Putins gibt. Und natürlich wird es Russen geben, die trotzdem weiter dem Diktator huldigen, so, wie es nicht wenige Deutsche ohne den entsprechenden Migrationshintergrund gibt, die das tun.
Der große Knackpunkt der russischen Gesellschaft ist, dass sie schon seit Sowjetzeiten (und de facto auch schon zuvor, aber mit weniger modernen Methoden) ganz gezielt atomisiert und abgestumpft wurde. Das System Putin stützt sich auf folgende Säulen:
1. Es gibt keine objektive Wahrheit, nur unzählige Erzählungen und Versionen. Der Kreml haut schamlos dutzende verschiedene Lügen und Halbwahrheiten heraus, und dass nicht, damit sie gänzlich geglaubt werden, sondern zu dem Zweck, die Wahrheit zu begraben und das Wasser zu trüben, damit die Menschen einfach nicht mehr wissen, was und wem sie glauben glauben können, und in Apathie und Zynismus verfallen. "Es lügen doch eh alle." "Wer weiß schon, was stimmt." In einer Gesellschaft, die seit 1917 systematisch bis ins kleinste Detail belogen und von Propaganda geblendet wurde, verfängt so etwas leicht.
2. Das kleinere Übel ist das Beste, worauf man hoffen kann. Niemand ist wirklich "gut", die anderen sind nicht besser, und wer Veränderungen anstrebt, tut dies aus niederen Motiven. Es gibt einen tief verwurzelten Zynismus, der zum Beispiel das Konzept der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit als bloße hohle Worte ansieht. In dieser Vorstellungswelt ist der Autokrat, der natürlich auch korrupt ist, aber immerhin "seine Arbeit macht", scheinbar besser als die Alternativen. Dieser Narrativ bröckelt angesichts der militärischen Rückschläge in der Ukraine gerade am stärksten.
3. Es lohnt sich nicht, etwas ändern zu wollen. Apathie ist die dritte große Säule des Regimes Putin. Im Grunde bot er seit den 2000er-Jahren einen Deal an: Die Bürger halten sich aus der Politik heraus und lassen ihn und seinen inneren Kreis machen, im Gegenzug erhalten sie einen Anteil an dem (relativen) Wohlstand und der (relativen) Sicherheit nach den chaotischen 90er-Jahren und "hatten ihre Ruhe". Dieser bequeme Zustand hat spätestens seit der Teilmobilisierung eine erheblichen Rückschlag erlebt.
4. Früher war alles besser. Nicht zuletzt der Krieg gegen die Ukraine speist sich aus einer trügerischen Nostalgie für die Sowjetzeit und das Zarenreich. Sicher, es wurden Millionen Menschen deportiert, inhaftiert und ermordet, aber: Was waren wir damals mächtig und gefürchtet! Die Welt hat uns nicht geliebt, aber respektiert - diese Gedankengänge sind vielen Russen, gerade älteren Jahrgängen, nicht fremd.
Es ist diese Mischung, zusammen mit dem ausgefeilten Unterdrückungsapparat (in dem Putin als mittlerer Funktionär ja seine Sporen verdient hat), die Widerstand, Protest und Aufstand so schwierig machen. Die Flucht ins Ausland ist da für viele Russen noch die Option, die sie am ehesten sehen und verwirklichen können.
Dramatische Veränderungen in Russland selbst sehe ich erst nach einer deutlichen, selbst durch die stärkste Propaganda nicht zu leugnenden militärischen Niederlage in der Ukraine und einer weiteren Verschlechterung der Lebensumstände. Gerade ersteres war in schon 1905 und 1917 der Antrieb für Proteste und Umstürze.