Das hat jetzt nicht's mit der Abweisung von Schuld zu tun. In einer Kapitalistischen Welt kann man als Staat halt einfach kein Sozialistisches System etablieren.
Wir können gerne auch den weniger wertenden Begriff Verantwortung benutzen. Das ändert aber nichts an den zwei entscheidenden Punkten:
1. War und ist "die Welt" nicht kapitalistisch, sondern kannte und kennt eine Vielzahl von Modellen zur Organisation des ökonomischen Lebens, von denen einige stärker verbreitet sind als andere.
2. Es existierten Staaten, die zumindest den gängigsten Definitionen nach (und irgendeine müssen wir benutzen, sonst ist die Diskussion sinnlos) sozialistisch waren - und diese sind allesamt auf furchtbare Art und Weise an sich selbst gescheitert.
Der Der jüngsten Weltgeschichte eben nicht.
Wenn einzig die jüngste Weltgeschichte relevant wäre und der europäische Kolonialismus etwas besonderes wäre, hättest Du in Teilen recht.
Das Osmanische Reich ging 1922 unter. Wenn man Deiner Deutung folgt, basieren Wohlstand und Macht der heutigen Türkei, die weder europäisch noch westlich ist, auf der Ausplünderung und Unterdrückung anderer Gebiete vom Balkan bis zur arabischen Halbinsel. Diese Vergangenheit wird in der Türkei in der breiten Öffentlichkeit nicht kritisiert - im Gegenteil.
Das sogenannte "Jahrhundert der Demütigung" Chinas dauerte von 1839 bis 1949. Das waren 100 Jahre in mehr als 2200 Jahren chinesischer Geschichte, in denen es
die imperiale Macht in Asien war und sich dem entsprechend verhalten hat. In dem Zusammenhang ein prägnanter Satz, der Ho Chi Minh zugeschrieben wird: "Ich würde lieber für 100 Jahren französische Fäkalien schlucken als für 1000 Jahre chinesische Fäkalien. Die Franzosen sind Fremde, sie werden wieder verschwinden. Die Chinesen werden bleiben." Es hat gute Gründe, warum sich Vietnam außenpolitisch verstärkt gen USA orientiert.
Wenn wir uns dem Iran zuwenden, lohnt sich die Beschäftigung mit der Rhetorik des Regimes. Darin wird nämlich nicht nur die religiöse Überlegenheit des schiitischen Islam betont, sondern auch die kulturelle Überlegenheit aufgrund der eigenen Geschichte gegenüber so "kultur- und geschichtslosen" Nationen wie den USA oder dem Irak. Der Traum davon, die alte imperiale Herrlichkeit wiederaufleben zu lassen, ist da quicklebendig.
Man denke auch an den Brief Osama bin Ladens, der in jüngster Zeit auf TikTok die Runde machte (wo auch sonst). In diesem bot er den USA großzügig Frieden an...wenn die Bevölkerung geschlossen zum sunnitischen Islam konvertieren und so "unmoralische" Praktiken wie Homosexualität, Pornographie, Geldverleihen und höhere Bildung für Frauen beenden würde.
Indonesien (gerne ja mal als Vorreiter des "Globalen Südens" genannt) marschierte 1975 in Osttimor ein, um sich diesen Staat und dessen Ressourcen als Kolonie anzueignen. Bei den Massakern durch indonesische Truppen und Milizen starb fast ein Drittel der Bevölkerung. Dieses Vorgehen findet bis heute in der indonesischen Bevölkerung breite Zustimmung und Anerkennung.
Vor nicht so langer Zeit versuchte der Film "The Woman King" das Königreich Dahomey in Afrika als heroische Nation zu verzapfen, die gegen die bösen Europäer und den von ihnen importierten Sklavenhandel aufstand. Das Königreich Dahomey basierte schon lange vor der ersten Begegnung mit Weißen auf dem Besitz von und den Handel mit Sklaven und führte systematisch Kriege, um diese zu beschaffen.
Vor dem gegenwärtigen und vergangenem Hintergrund lehne ich es entschieden ab, eine
besondere westliche verbrecherische Art, Arroganz oder Einflussnahme als unverrückbare und nicht zu diskutierende Tatsache zu akzeptieren und daraus zu folgern, man hätte im Westen gefälligst den Mund zu halten und vor jedem diktatorischen Regime zu kuschen, das sich auf angebliches oder tatsächliches Unrecht beruft - während es selbiges genussvoll und ohne Reue selbst im größeren Ausmaß praktiziert hat oder praktiziert.
Wenn die Diktatur VR China Umerziehungslager errichtet, unfairen Wettbewerb betreibt, den Westen medial mit Propaganda überflutet und offen nach einer globalen Hegemonie strebt, in der freiheitlich-demokratische Werte nichts zu lachen haben, mach ich deswegen den Mund auf.
Wenn religiöse Eiferer im Iran nach Atomwaffen streben, "Ungläubigen" wie mir regelmäßig mit Vernichtung drohen und damit liebäugeln, wie schön die Welt doch wäre, wenn alle Menschen zwangskonvertiert oder versklavt wären, mache ich deswegen den Mund auf (selbstredend gilt das auch für andere Staaten oder nicht-staatliche Akteure).
Wenn die Russische Föderation die im Zarenreich und der Sowjetunion für die Unterdrückung des Kaukasus erprobten Muster in der Ukraine anwendet, mach ich deswegen den Mund auf.
Und wenn es in einigen Regionen der Welt deutliche Fortschritte im Bezug auf Freiheit, Menschenrechte und Demokratie gibt (also Werte, die ich teile und als besser betrachte als den autoritären Dreck) und in anderen daran gearbeitet wird, diese rückgängig zu machen - und zwar global - dann weiß ich auch, wo Kritik schärfer, lauter und eindringlicher sein muss. Wenn man schon davon ausgeht, dass alle Dreck am Steck haben, empfiehlt sich, diejenigen zu unterstützen, die das anerkennen und Besserung
versuchen - und nicht die, die das Gegenteil tun.