Zwei Funkelbaumfestgeschichten
Eine Kurzgeschichte zum Funkelbaumfest
von Minza
"Großvater?" begann der kleine Rydigar, neben dem großen Kaminfeuer auf dem Schaffell sitzend und auf einem Stück beinahe zu heißer Röstkastanie herumkauend. "Großvater? Erzähl mir die Geschichte, warum wir das Funkelbaumfest feiern."
"Hm?"
"Bitte, Großvater..."
"Weil wir es jedes Jahr feiern?"
"Nein. Überhaupt so."
"Weil... wir alle Geschenke bekommen?"
"Nein! Warum feiern wir das? Warum feiert das überhaupt irgendjemand?"
"Achsooo."
"Genau!"
"Mhm."
"Also... bitte. Erzähl es mir."
"Und Du denkst, Dein alter Herr Großvater weiß das überhaupt?"
Rydigar schob sich den Rest der Röstkastanie in den Mund. "Du weißt doch sonst immer alles."
"Alles...?"
"Also, so fast."
"Fast alles?"
"Weißt Du es? Oder weißt Du es nicht?"
"Nun jaaa..."
"Tust Du?"
"Ja." Rydigars Großvater hört auf, auf dem Schaukelstuhl vor und zurück zu wippen, beugte sich nach vorne. "Ich denke schon, dass ich diese Geschichte kenne."
"Erzähl, Großvater! Erzähl!"
Rydigars Großvater lachte leise in seinen struppigen Bart hinein. "Geduld, kleiner Rydigar. Geduld."
"Och, Groooßvater."
Er lachte erneut, diesmal lauter. "Die Geschichte von der Entstehung des Funkelbaumfestes also."
Rydigar lehnte sich zurück, stützte sich auf seinen durchgestreckten Ärmchen ab und wackelte geschichtenbereit mit seinen Zehen, dann schlossen sich die Füße dem kleinen Tanz an.
"Wir feiern das Funkelbaumfest..."
"Ja...?"
"...damit wir den Funkelbaumfestbaum aufstellen können."
"Hä?"
"Ja, wirklich. Der kam zuerst." Rydigars Großvater begann erneut schmunzelnd zu schaukeln.
"Aber warum?"
"Das würde ich Dir ja gerne erzählen, wenn Du mich nicht dauernd unterbrechen würdest."
"Oh. 'tschuldigung."
"Der Baum ist ein Zeichen."
"Ein Zeichen des Glücks?"
Nur kurz sah Rydigars Großvater seinen Enkel warnend an. Dann: "Nicht ganz..."
"Dass der Winter bald vorbei geht?"
"Nein."
"Dass die Götter über uns wachen und die Engel uns gute Kunde singen?"
"Auch nicht."
"Aber was dann...?"
"Es ist ein Zeichen. Eine Nachricht. Eine Botschaft."
"An wen?"
"An Vampire."
"Vampire?!"
"Schrei halt noch lauter. Deine Eltern schlafen ja nicht im nächsten Raum und wären zudem auch nicht höchst angefressen, wenn sie merken, dass Du alle Kastanien verdrückst. Auf Dich und auf mich..."
"...'tschuldigung."
"Mhm."
"Vampire?"
"Vampire, kleiner Rydigar. Vampire."
"Aber..."
"Hm?"
"...warum?"
"Damit sie uns nicht fressen."
"Hä?"
"Es würde für Dich wirklich mehr Sinn machen, wenn Du endlich einmal Deine Klappe halten und mir zuhören würdest, Rydi. Nur so als kleiner, freundlich gemeinter Hinweis."
"In Ordnung."
"Bist Du Dir sicher?"
"Ja."
"Wirklich?"
"...ja."
"Gut." Rydigars Großvater griff nach der Tasse heißem Westblütlertee, der neben ihm auf dem kleinen Tischchen stand und nahm einen vorsichtigen Schluck. "Ah, was für ein Leben."
"Großvater...!"
"Ist ja schon gut." Er stellte die Tasse zurück. "Es begann alles in einem kleinen Dorf in Gothog. Oder so wurde es mir jedenfalls erzählt. In dieser Gegend wurde viel gefeiert. Das orkische Neujahr, welches man schon lange Zeit vor der Ankunft der jüngeren Völker dort feierte. Das Große Fest des Großen Lurchfisches. Das Fest der albernen Gans. So manchen Geburtstag. Aber damals gab es eben noch kein Funkelbaumfest."
"Wie lange ist 'damals'...?"
Rydigers Großvater sah ihn streng an.
"Oh, 'tschuldigung."
"Mhm. Kein Funkelbaumfest. Damals. Also... das feierte man da noch nicht. Kannte man nicht. Das gab es nämlich damals noch gar nicht. Das mussten sie erst erfinden. Aber wie haben sie das erfunden, fragst Du dich sicher gerade, stumm und mit zusammengekniffenem Mund, wie Du so dasitzt?"
Rydiger nickte eifrig mit krampfhaft zusammengekniffenen Lippen.
"In diesem kleinen, verschlafenen Dorf, von dem ich Dir eben erzählt habe, gab es eine große Faertanne... oder Steinfichte. So genau ist das nicht mehr bekannt. Sie ragte über alle Hausdächer hinaus und ihre Äste waren so ausladend, dass der ganze Marktplatz seit Jahrzehnten davon eingenommen war. Wie das Dorf hieß, weiß auch niemand mehr. Genauso wenig, wo es genau lag. Oder ob es dieses Dorf vielleicht sogar noch gibt. Aber von dem Marktplatz weiß man und dass der Baum so hoch war, dass man ihn noch einen Tagesmarsch weit entfernt sehen konnte.
Und wenn der Herbst dann langsam ins Land schleicht und in den Winter übergeht, die Nächte länger und dunkler werden, dann war dieser Baum ein Schatten in der Dunkelheit selbst. Schwarz und alles überlagernd. Stell es Dir so vor, wie die alte Eiche hinter der Taverne. Die, die so aussieht, als würde sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten sein, wenn der Mond nicht scheint."
Rydigar hörte seinem Großvater mit weit aufgerissenen Augen zu.
"Und wie es zu dieser Zeit so in Gothog üblich war, lebten dort eine ganze Menge düsterer Gesellen. Orks und Kobolde. Schrate und Goblins. Moorhexen und sogar Leuten aus Githwig." Er machte eine sehr dramatische Pause, schielte kurz auf seinen Westblütler, entschied sich aber dagegen. "Und eben auch Vampire. Sie waren garstig. Damals noch mehr als heute. Warum weiß ich nicht, aber so erzählt man sich das. Fies und lästig wie die Verwandtschaft aus dem Nachbarort."
Rydigar zog angespannt die Luft ein.
"Und wie wir wissen, fühlen sich solche Vampire vom Schwarz angezogen. Vom Schatten. Von der Dunkelheit. Niemand weiß mehr genau, ob es sich tatsächlich um Vampire handelte... damals. Oder ob es normale Fledermäuse waren, die den Baum auf dem Marktplatz als so anziehend empfanden. Aber anziehend war er für diese Was-auch-immer." Jetzt nahm er doch noch einen großen Schluck vom Westblütler. "Ahhh. Also entschied sich ein Schwarm von Vampiren... oder eben normalen Fledermäusen... den Winter im Schutz der Äste des großen Baumes zu verbringen. Und das gefiel den Dorfbewohnern überhaupt nicht. Kannst Du Dir das vorstellen?"
Rydigar nickte eifrig.
"Und darum entschieden sich die Dorfbewohner, dies alles zu ändern. Zuerst waren es lediglich einige hölzerne Gotteszeichen. Hier ein Gebetsplättchen und dort ein anderer Anhänger. Dann die wertvollen Relikte aus dem nahen Tempel. Glänzend und... funkelnd. Und als sie merkten, dass das Funkeln die Fledermäuse tatsächlich irritierte, hängten sie mehr und mehr Kram in die dichten Zweige: kleine Klumpen aus Verpackungsmaterial. Besteck. Nachgebaute Gotteszeichen. Die goldenen Beisserchen von Oma Hinzel."
Rydigar hob skeptisch eine Augenbraue.
"Und schon bald war der Baum über und über mit glitzernden Dingen geschmückt und silberne Fäden wurden dazu gepackt und gläserne Kugeln und Kerzen und laut sangen die Dorfbewohner nachts um auf dem nun erhellten Platz und keine Fledermaus wollte sich mehr dort zur Ruhe setzen. Kein Vampir mehr dort einnisten. Und so hatten die guten Leute dieser Gegend es tatsächlich geschafft, dass es keine vampirischen Übergriffe gab und alle waren sicher. Nicht, dass es zuvor solche Übergriffe in diesem Dorf gegeben hätte, wie mir erzählt wurde. Im Grunde hatten sie nie solche Probleme. Aber danach eben auch nicht und das ist es, was zählt."
"So wie der Anti-Düsterwachtel-Stein, den mir Onkel Paul für zehn Eier verkauft hat?"
Rydigars Großvater beugte sich mit in Falten gelegter Stirn nach vorne, schwieg aber.
"Großvater...?"
"Rydigar?" Rydigars Großvater schüttelte seinen Kopf nur leicht. "Du bist ein Depp."
***
"Großvater?" begann Rydigar erneut.
Rydigars Großvater schrak leicht aus seinem Dösen hoch, schmatzte verschlafen und richtete sich im Schaukelstuhl etwas gerader auf, beugte sich dann nach vorne und legte ein paar Holzscheite in das heruntergebrannte Feuer des Kamins nach. "Was gibt es denn wieder, kleiner Rydigar? Sind Deine Röstkastanien zu kalt geworden?"
"Keine mehr da..."
"Oh je. Das wird Ärger geben..."
"...aber darum geht es gar nicht."
"Ach so?"
"Die Geschenke heute Abend...?"
"Ja?"
"Die hat doch..."
"Mhm."
"...das Funkelkind gebracht, oder?"
"Oh. Ach so. Ja."
"Ich hab aber letzten Sommer während dem großen Sonnenfest einigen Zugereisten zugehört."
Rydigars Großvater sah seinen Enkel missfallend an.
"Und die haben gesagt, dass ihnen der Funkelbaummann letzten Winter einen Holzschlitten mit Glöckchen gebracht hat."
"So so."
"Aber der Funkelbaummann? Wer soll das sein?"
"Nun ja..."
"Bringt nicht das Funkelkind die Geschenke?"
"Nicht jedem, nein."
"Was?"
"Würde das Funkelkind doch auch gar nicht schaffen, oder?"
"Eben doch!"
"Aha? Und warum?"
"Weil es magisch ist!"
"Natürlich. Ganz praktisch. Magie als Lösung für alles."
"Hä?"
"Kleiner Rydigar..." Rydigars Großvater schob sich in seinem Schaukelstuhl zurecht, bis es ihm tatsächlich gemütlich war. "...es gibt so viele verschiedene Funkelbaumtraditionen, wie es junge Mädchen in der Nachbarschaft gibt."
"Fünf?"
"Mehr..."
"Oh."
"Und der Funkelbaummann ist da genauso legitim wie das Funkelkind."
"Aber nehmen die sich nicht gegenseitig die Arbeit weg?"
Kurz schloss Rydigars Großvater genervt die Augen. "Nein. Die ergänzen sich. Die sind Freunde."
"Ach sooo."
"Jetzt hast Du's."
"Und welche... Traditionen... gibt es noch?"
"Äh. Zum Beispiel den alljährlichen Geschenkebringer."
Ein skeptischer Blick von Rydigar.
"Oder den Funkelbaumfestoger."
"Den was?"
"Oger. Funkelbaumfest. Du solltest Dir mal Deine Ohren waschen, kleiner Rydi."
"Ein Oger? Der Geschenke verteilt?"
"Anscheinend hat er das nicht immer gemacht. Anscheinend hat er damals in einem hohlen Baum gewohnt, den die Leute zur Festzeit geschmückt haben. Hat dort seinen Winterschlaf gehalten. Wurde durch das Geplärre der singenden Feiernden wach. Und ist dann raus gelaufen, um alle zu vertreiben. Nackt und grunzend."
"Äh..."
"Und daraus wurde dann der Funkelbaumfestoger."
"Nackt?"
"Ziemlich."
"Bäh."
"Na hör mal, kleiner Rydigar. Nackt sein ist doch nicht bäh."
"Wenn's ein Oger ist... doch."
"Na gut."
"Da bin ich ja ganz froh, dass wir nur einen Funkelkind haben und die Anderen einen Funkelbaummann."
"Na ja..."
"Hm?"
"Dazu gibt es auch eine Geschichte."
"Ui. Uiui. Erzähl sie mir bitte, lieber Großvater."
"Hm."
"Bitte."
"Und dann erzählst Du Deinen Eltern, dass ich Dir das erzählt habe und die erzählen mir dann, dass ich zukünftig im Stall wohnen kann oder so."
"Warum das denn?"
"Weil es kein gutes Licht auf den Funkelbaummann wirft."
Die Augen von Rydigar blitzten mit kindlicher Neugierde auf. "Erzähl!"
"Na gut. Dann soll dies mein Ende in diesem Haushalt sein..."
"Ich erzähle nichts!"
"Mhm. Natürlich. Liegt ja in der Familie, seinen Mund halten zu können."
"Hä?"
"Alles gut. Sei still, ich erzähle jetzt."
"Jaaa!"
"Der Funkelbaummann soll als einfacher Mann angefangen haben. Als Bürger wie ich und Du. Damals gab es schon die Funkelbaumfestbäume..."
"Wegen den Vampiren."
"Da hast Du gut aufgepasst und Dir sogar einmal was für eine Stunde im Gedächtnis behalten können. Bravo."
Rydigar verzog sein Gesicht.
"Also. Damals gab es eben schon die Funkelbaumfestbäume und man feierte jeden Winter das Funkelbaumfest. Klar. Warum sollte man sonst die Bäume haben...? Wie lange nach dem ersten großen Fest in Dorf in Gothog? Das weiß keiner mehr so genau. Aber es war anscheinend in Corossus, wo der Winter in diesem Jahr besonders bitter und kalt war. Die Leute starben wie die Fliegen, wenn sie an Tante Loris Sahnetorte naschen. Einer nach dem anderen. Sie verhungerten. Erfroren. Wurden von wilden Tieren gefressen."
"Nur nicht von Vampiren!"
"Wegen den Funkelbaumfestbäumen, ja. Und in diesem Winter eben, kalt und dunkel wie er war, trieb sich ein alter Kerl in diesem Örtchen umher. Versuchte, sich durch die eisigen Tage zu schlagen und die eisigen Nächte zu überleben. Er war kein netter Kerl, das kann ich Dir sagen. Eher das Gegenteil. Ruppig und zerwuschelt. Ohne ein Bad seit langer langer Zeit."
Der Blick von Rydigar wurde verträumt, geradezu hoffend.
"Und er stahl sich so durch die Ortschaft. Mal ein Fläschchen Schnaps hier. Mal einen kleinen Handkuchen dort. Mal eine Ecke Käse oder ein scharfes Würstchen. Socken. Eier. Decken. Becher. Schüsseln. Einen ganzen Sack voll."
"Mhm."
"Und in einer Nacht... es soll direkt der 24. Dezember gewesen sein... da stieg er sogar ins Waisenhaus ein. Um dort zu stehlen, was die Kinder dort zum Überleben brauchten..."
"...und was das Funkelkind ihnen gebracht hat?"
"Äh. Natürlich. Ganz klar."
"Oooh."
"Und als er da nun zwischen den Bettchen neben dem großen Funkelbaumfestbaum stand und leise alles einpackte, was er in seine Finger bekam, wurde der dicke, faule Hund des Hauses wach. Betrunken war er von der dünnen Biersoße des kargen Festtagsessens und knallrot soll seine Nase gewesen sein. Und er bellte los und alle wurden wach und sahen sich um, doch dort war niemand mehr."
"Magie?"
"Ne. Geflüchtet war die Sau. Über alle Berge."
"Oh."
"Aber er hatte in seiner Panik den Sack mit dem vorherigen Diebesgut abgestellt. Direkt neben dem Baum. Und eines der kleineren Kinder hatte im Halbschlaf noch einen dicken Kerl aus dem Zimmer laufen sehen."
"Oh, wie hieß das Kind?"
"Äh. Rydbert oder so. Such es Dir aus."
Rydigar sah seinen Großvater unzufrieden an.
"Das wichtige war, dass die Waisenkinder nun allerlei Dinge hatten, die sie benötigten. Schüsselchen und Becherchen. Käse und scharfe Würstchen. Und all das hatte ihnen der geheimnisvolle Mann dagelassen. Der Funkelbaummann."
"Und der Schnaps?"
"Hm?"
"Du sagtest, dass da auch Schnaps dabei war. Der war auch für die Waisenkinder?"
Rydigars Großvater schüttelte seinen Kopf, wirkte beinahe schon enttäuscht. "Bist Du Dir sicher, dass Du nicht doch adoptiert bist oder so?"
Rydigar saß noch lange auf dem Schaffell vor dem flackernden Kamin und dachte über das Gesagte nach, während sein Großvater schon wieder in seinem Schaukelstuhl leise vor sich hinschnarchte.