[Bastion - Appartmentkomplex der Reserveverwaltungskräfte - Persönliches Appartment von Andros Cavendish]
Andros wurde wach. Ihm tat der Rücken weh, er hatte Kopfschmerzen und, was noch viel schlimmer war: ihm war langweilig. Seehr langweilig. Und Langeweile konnte dazu führen, dass Menschen sich die merkwürdigsten Dinge einfallen ließen, um Zeit zu überbrücken.
Er stand von seiner Couch auf, ging ins Badezimmer, öffnete den dort befindlichen Spiegelschrank und nahm eine Kopfschmerztablette. Danach ließ er kaltes Wasser über seine Handgelenke fließen und massierte anschließend seine Schläfen. Manchmal half es, mindestens genauso oft aber auch nicht. Schließlich betrachtete er sich im Spiegel und war über sich selbst erschrocken: er hatte ausweislich der Badezimmeruhr nur drei Stunden geschlafen, sein Gesicht sah aber aus, als hätte er 300 Jahre auf seiner Couch verbracht. Er merkte, wie seine stechenden Kopfschmerzen relativ schnell einem dumpfen Drücken wichen, einem Gefühl, das ungefähr mit der Einspannung seines Kopfes in einem Schraubstock vergleichbar war. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut, und es war irgendwie besser als gar keins. Darüber mußte er innerlich lachen, und seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Grinsen.
Na also, es ging doch.
Er richtete seine Uniform, ging ins Wohnzimmer und schnappte sich seine Mütze, welche er mit maximal erlaubter Lässigkeit aufsetzte, und betrachtete aus seinem Panoramafenster den Regen, der eingesetzt hatte. Entgegen seines festen Vorsatzes starrte er sich fest und versank erneut in Gedanken; er wurde das Gefühl nicht los, dass er in einem goldenen Käfig saß, wobei ihm noch nicht ganz klar war, ob er vor der Außenwelt oder die Außenwelt vor ihm behütet werden sollte. Seine Gedanken begannen immer mehr, um alles Mögliche zu kreisen, bis er schließlich den wundesten Punkt seiner eigenen Vergangenheit erreichte:
Julianna.
Julianna, dieses kleine, zierliche, rothaarige, sommersprossige Wesen mit dunkelgrünen Augen und einer überdimensionierten Brille, schlabbrigen Rollkragenpullis und viel zu alten, ausgebeulten Hosen. Er hatte sie geliebt wie sonst nichts in seinem Leben, und nun war sie tot. 'Nun' war in diesem Zusammenhang zwar etwas übertrieben, denn immerhin war sie schon fünf Jahre tot, aber die Tatsache, dass er sie immer noch liebte wie am ersten Tag, ließ es ihm vorkommen, als würde sie jeden Tag aufs Neue sterben. Inzwischen gelang es ihm zwar immer mehr, seine Gedanken an sie zu unterdrücken, aber manchmal ging es einfach nicht. Ein tiefes Seufzen verließ seine Kehle, und seine Kopfschmerzen setzten wieder ein. Irgendwie kamen sie ihm gar nicht so ungelegen, rissen sie ihn doch abrupt aus seinen Gedanken.
Er wiederholte die Badezimmerprozedur, als ihm ein spontaner Gedanke kam, wie er sich ablenken konnte. Ein breites Grinsen umspielte sein Gesicht, und er verließ sein Appartment und fuhr mit dem Lift direkt in den Eingangsbereich des Appartmentkomplexes. Tief befriedigt stellte er zunächst fest, dass sie tatsächlich hinter dem Tresen stand, bevor er unverhohlen einen der riesigen Sessel so in Position rückte, dass er ihr direkt gegenüber saß.
Da stand sie also, der kleine dunkelhaarige Drachenlady, mit der er Spaß haben würde und die er bereits seit seinem ersten Tag im Gebäude kannte: Präfektin Erin McBee. Er hatte sie schon öfters geneckt, manchmal auch etwas härter als sonst für ihn üblich, aber sie war stets in ihrer arrogant-höflichen Art zwar zuvorkommend, jedoch eisig geblieben. Diesmal jedoch würde er sie knacken, garantiert. Viele der anderen Präfekte und Legate kannten die besondere Beziehung zwischen den beiden, und während die eine Hälfte verständnislos den Kopf schüttelte, konnte sich die Andere ein Lächeln nicht verkneifen. Doch diesmal erntete er erstaunte Blicke.
Er legte seine Arme auf die Sessellehnen, blieb stocksteif sitzen und beobachtete sie für volle zwei Stunden. Er sprach kein Wort, bewegte seinen Kopf kaum, und sein Körper wogte nur durch seine extrem rythmische Atmung leicht auf und ab. Die Präfektin erkannte ihn sofort, nickte ihm zu, hob ihre rechte Augenbraue, als sie keine Reaktion erntete, und widmete sich wieder ihrem Tagesgeschäft. Nach einer Stunde wurde sie leicht unruhig und verlagerte ihren Schwerpunkt von einem Fuß auf den anderen. Andros ließ sich davon nicht beeindrucken und starrte sie weiter an. Exakt um 18:00 Uhr, eine Stunde vor ihrem Dienstschluss, erhob er sich von seinem Sessel und ging aufrechten Ganges mit betont großen Schritten auf den Tresen zu. Die junge Präfektin war sichtlich irritiert und nahm Haltung an. Er stützte sich mit seinen geballten Fäusten auf den Tresen, schaute sie streng an, musterte sie von oben bis unten und verwickelte sie in ein Gespräch.
"Präfektin McBee, ich begehre eine Auskunft von Ihnen."
Die Präfektin fand halbwegs in ihre Rolle zurück und zwang sich zu einem Lächeln. Andros erkannte die ihr innewohnende Unsicherheit sofort. Seine Vorarbeit hatte Wirkung gezeigt.
"Was kann ich für Sie tun, Legat Cavendish?"
"Ich würde gerne wissen, wieviele Appartments von weiblichen Wesen bewohnt werden."
Die Präfektin war obgleich dieser offensichtlich unsinnigen Frage baff und brauchte eine geschätzte Ewigkeit, um sich zu sammeln. 1:0.
"Sir, mit dem allengrößten Respekt, aber die Zimmerbelegung gehört zum vertraulichen Datenbestand des Hauses, und ich..."
Er fuhr ihr mir seiner dunklen, freundlich klingenden, aber hart wirkenden Stimme ins Wort.
"Präfektin, ich habe Sie nicht danach gefragt, wer wo wohnt, sondern wieviele der Appartments von weiblichen Wesen bewohnt werden. Stimmen Sie mir zu, dass der Gehalt meiner Frage nicht mit Ihrer Interpretation übereinstimmt?"
Sie schluckte. 2:0.
"Nun Sir, meine Anweisungen lauten, dass ich bestimmte Daten über die Belegungspläne nur bei berechtigtem Interesse herausgeben darf."
Er runzelte die Stirn und überlegte. Anschlusstreffer, aber ihm fiel etwas ein.
"Präfektin McBee, wie Sie wissen bin ich den 'Verwaltungsführungskräften zur besonderen Verwendung' zugeteilt, weswegen ich auch im 13. Stock residiere. Soweit ich mich erinnern kann- und Sie möchten mich bitte korrigieren, wenn ich mich irre- besagt die interne Verwaltungsvorschriftenteilziffer 14.3, dass den Wünschen der 'Verwaltungsführungskräfte zur besonderen Verwendung' entsprochen werden soll, sofern nicht maßgebliche Interessen dem entgegenstehen. Sie kennen die jeweiligen Definitionen für die Begriffe 'berechtigtes Interesse' und 'maßgebliches Interesse', Präfektin?"
Auf der Stirn der Präfektin bildeten sich kleine Schweißperlen. Sie nickte und betete die jeweilige Definition herunter. Offensichtlich war er auf ein so genanntes 'schwarzes Loch' gestoßen, und nun war neben latentem Sarkasmus auch sein Intellekt gefragt. Die Sache wurde für ihn doppelt spaßig.
"Sehr gut, Präfektin, ausgezeichnet sogar. Augenscheinlich stehen wir vor einem verwaltungstechnischen Problem. Einerseits besagen ihre Verwaltungsvorschriften, dass Sie bestimmte Daten nur bei einem 'berechtigten Interesse' herausgeben dürfen, andererseits ermächtigt mich eine Verwaltungsvorschrift, von Ihnen zumindest dienstlich so ziemlich alles verlangen zu können, was ich will, sofern meinem Begehren nicht ein 'maßgeblich Interesse' entgegensteht. Haben Sie eine Ahnung, wie wir die Situation auflösen können?"
Sie überlegte. Offensichtlich hatte Sie den Faden verloren und wurde langsam nervös. 3:1. Er bemerkte, wie sie immer öfter ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte und anfing zu stottern. Er zog die Notbremse; schließlich wollte er sie ärgern, aber nicht bloßstellen. Das war nicht seine Art. Also lächelte er sie geradezu väterlich gutmütig an, hob seine Hand und ergriff die Initiative. Ein Ablauf, den er auch gegenüber seinen Studenten anwandte.
"Ich weiß, was sie denken, Präfektin McBee. Sie haben bestimmt denselben Lösungsansatz wie ich. Bei näherer Betrachtung löst sich unser kleines Problem in Wohlgefallen auf: ein 'berechtigtes Interesse' im Sinne Ihrer Verwaltungsvorschrift ist stets ein Wunsch im Sinne meiner Verwaltungsvorschrift, sofern meinem Wunsch kein 'maßgebliches Interesse' entgegensteht. Hab' ich Recht?"
Ein leises Stöhnen verließ ihren Mund, und man konnte ihr die Erleichterung anmerken. Zum ersten Mal überhaupt sah er sie aufrichtig lächeln. Sieg ohne Niederlage, ganz, wie er es mochte.
"Natürlich, Sir, Sie haben vollkommen Recht, genau diese Idee hatte ich auch. Einen Moment..."
Sie drückte ein paar Tastenkombinationen und starrte auf ihren Bildschirm. Anschließend verkündete sie stolz:
"Exakt 86 weibliche Wesen von 300 Reservekräften insgesamt, Sir."
"Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft, Präfektin McBee. Sie sind eine loyale Dienerin des Imperiums."
Sie strahlte und setzte zum Gruß an, während er ihr ein letztes wohlwollendes Nicken zuwarf, kehrt machte und sich zurück in sein Appartment begab. Dort angekommen, brach das Gelächter aus ihm heraus. Was interessierte es ihn, wieviele weibliche Wesen im Gebäude wohnten?
Nicht im geringsten, aber jemand anderes interessierte sich für die Aktion, die während der letzten zweieinhalb Stunden zwischen ihm und der armen Präfektin McBee stattfand. Was Andros nämlich nicht wußte: jeder Winkel des Gebäudes war video- und tonüberwacht, und schließlich wurde das Material ausgewertet und einer besonderen Sektion seiner digital gespeicherten Dienstakte hinzugefügt, eine Sektion, von der er ebenfalls nichts wußte.
Die aber wieder andere Personen zu sehen bekamen.
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