Große und (vermeintlich) kleine Erfindungen des Zweiten Weltkriegs
Die Tage hatte ich Gelegenheit, alte und neue Literatur zu technischen Entwicklungen während des Zweiten Weltkriegs zu wälzen, und möchte nun den ein oder anderen interessanten Punkt teilen. "Jeder" kennt die berühmt-berüchtigten "Wunderwaffen" Großdeutschlands und seiner Verbündeten (insbesondere des Kaiserreichs Japan), weshalb ich hier ein wenig den Fokus auf die Alliierten legen möchte. Jenseits von V2, ME 262, Nachtsichtvisier "Vampir" und Sturmgewehr 44 gibt es da so einige spannende Punkte.
Notwendigkeit, so lautet ein bekanntes Sprichwort, ist die Mutter der Erfindung. Weniger prosaisch: Not macht erfinderisch. Das traf auch auf die Alliierten zu. So besaßen die USA zwar eine gewaltige industrielle Basis, standen aber dennoch vor einer Herausforderung: Wie sollten die über fast den ganzen Globus verteilten eigenen Truppen und die der Verbündeten mit Lebensmitteln versorgt werden? Die Lösung, eben so simpel wie genial: Frühstücksfleisch (auch "
Spam") genannt, ein simples, nahrhaftes und gut haltbares Gericht, millionenfach verpackt in besonders stabilen Dosen. Ob im Pazifik, in der Normandie oder in der Sowjetunion, Spam sicherte die Versorgung zahlloser Soldaten auf besonders effektive Art und Weise.
Ausrüstung und Nachschub zu haben ist schön und gut - aber sie muss auch von A nach B gebracht werden. Auch dabei zeichneten sich die USA aus: Auf See durch die
Frachtschiffe der Liberty-Klasse, deren revolutionär einfache Bauweise eine Konstruktion binnen 40 Tagen erlaubte, zu Lande durch den
GMC CCKW Truck, der so robust und geländegängig war, dass er die großen mechanisierten Vorstöße in Ost und West massiv erleichterte. In einer speziellen Variante diente er zudem als amphibisches Landefahrzeug. Durch die Standardisierung und Vereinheitlichung auf diesen Typ konnte Wartung und Einsatz viel leichter erfolgen (anders als beispielsweise bei der Wehrmacht, die mit Dutzenden verschiedenen Mustern, darunter viele ausländische Beutefahrzeuge, im wahrsten Sinne zu kämpfen hatte).
Eine weitere Erfindung, die gerade den Krieg im Pazifik maßgeblich mitentscheiden sollte, war der
Bulldozer. Insbesondere Landefelder und Flugplätze konnten damit enorm schnell konstruiert werden und die sonst dafür notwendigen Kräfte wurden für andere Aufgaben frei. Es existieren Anekdoten darüber, dass japanische Kriegsgefangene in Verzweiflung gerieten, als sie sahen, dass das, was sie in Wochen mühsam per Hand errichtet hatten, von den Amerikanern binnen weniger Tage gebaut wurde.
Auf der Ebene der Kommunikation sollte das
Handsprechfunkgerät SCR-536, auch Handie-Talkie genannt, unbedingt erwähnt werden. Ein kleines Gerät mit geringem Gewicht, das an jeden Zugführer ausgegeben werden konnte und insbesondere die Abstimmung mit der Artillerie drastisch vereinfachte. Auf Seite der Achsenmächte existierte kein vergleichbares Modell.
Der
M3 Karabiner mit Nachtsichtvisier (eine Entwicklung des M2 Karabiner) erlebte sein Debüt 1945 bei den Kämpfen auf Okinawa und damit ungefähr zeitgleich mit dem "Vampir" (Zielgerät 1229) der Wehrmacht, wurde allerdings in größeren Stückzahlen produziert und ausgegeben.
Unterwasser-Rohrfernleitungen (Pipelines), die nach der Landung in der Normandie 1944 die Versorgung der Westalliierten mit Treibstoff erleichterten und eine Meisterleistung der Ingenieurskunst darstellten.
Im Bezug auf
Hubschrauber verdient der
Sikorsky R-4 Erwähnung, der bereits im Januar 1944 zum ersten Rettungseinsatz per Hubschrauber eingesetzt wurde und 1945 auf den Philippinen dann im größeren Rahmen demonstrierte, dass die Bergung und Rettung von Verwundeten auch während Kämpfen möglich ist - der Grundstein für das moderne CasEvac.
Kampfdrohnen sind derzeit wieder in aller Munde. Die
Interstate TDR war die erste ihrer Art, die tatsächlich ab 1942 in Serie gebaut und auch im Kampf eingesetzt werden. Gelenkt via Radio von einem bemannten Flugzeug aus führte sie eine Reihe von erfolgreichen Angriffen auf japanische Schiffe aus und erlaubte dabei sogar schon eine "Gun cam" mittels Fernsehtechnologie. Auch zu nennen:
AZON (präzisionsgelenkte Munition),
BAT (eine radargelenkte Gleitbombe nach dem Prinzip "fire and forget") und der
GT-1 Gleittorpedo mit einer Reichweite von bis zu 40 Kilometer.
Im Bereich der Luftfahrt gab es ebenfalls bemerkenswerte Innovationen: Das amerikanische
"Project Cadillac", ein fliegendes Frühwarnsystem mittels Radar, das eine erstaunliche Reichweite besaß. Die britische
"Gloster Meteor" sollte ebenfalls nicht vergessen werden, ein Strahlflugzeug, das ab 1944 in Dienst gestellt wurde und dadurch Berühmtheit erlangte, dass es über - für diese Zeit - besonders zuverlässige Triebwerke verfügte und dazu eingesetzt wurde, V1-Raketen abzufangen und zu zerstören. Und ein weiteres Arbeitstier: Die
Douglas C-47 Skytrain, ein Transportflugzeug, das aufgrund seiner Robustheit und Tragfähigkeit unter anderem für die Versorgung des chinesischen Widerstands eingesetzt wurde und dabei in enorm schwierigem Gelände operieren konnte. Zudem waren C-47 an nahezu allen wichtigen Operationen der Westalliierten beteiligt, darunter dem Pazifik, Sizilien und der Normandie. Ironischerweise erkannten auch die japanischen Streitkräfte die Vorzüge dieses Flugzeugs und verwendeten eine unter Lizenz vor Kriegsbeginn produzierte Kopie der Zivilversion Douglas DC-3.
Im Bereich der Artillerie und Flugabwehr war die Massenproduktion von
Abstandszündern durch die USA eine bedeutende Entwicklung. Sie erlaubten deutlich bessere Präzision und machten aufwändige Berechnungen überflüssig. Britische Artilleristen hatten diesen Vorteil nicht, nutzten aber besonders präzise Uhren und Zeitangaben über Radio von BBC, um ihre Geschütze extrem genau aufeinander abzustimmen.
In aller Kürze noch einige weitere wichtige Punkte: Das britische
H2S (das erste luftgestützte Radar, dessen Darstellungsform heute Standard ist), die Integration von Radaren bis hin zur Ebene von einzelnen Flugabwehrgeschützen auf Schiffen der US Navy, die amerikanische
Bazooka (die erste schultergestützte rückstoßfreie Panzerabwehrwaffe mit Raketenantrieb in Serienproduktion), spezielle Landungsschiffe und amphibische Fahrzeuge ("
Funnies"), die amerikanische
SIGABA-Verschlüsselungsmaschine (die im Verlauf des Krieges nie geknackt wurde), die
Boeing B-29 "Superfortress" (die unter anderem der Druckkabine zum Durchbruch verhalf),
Feuerleitanlagen (insbesondere die US Navy setzte dabei Maßstäbe). Die amerikanische Ausstattung größerer Verbände mit halbautomatischen Gewehren und auf sowjetischer Seite mit Maschinenpistolen sollte ebenfalls Erwähnung finden. Und natürlich der Elefant im Raum: Die
Atombombe, die dem 20. Jahrhundert ihren Stempel aufdrücken sollte.
Im Bezug auf Organisation und Doktrin zu nennen: Die sowjetische Verlegung eines Großteils ihrer Industrie außer Reichweite von deutschen Luftangriffen - eine logistische Meisterleistung, die in der Geschichte nur wenige Parallelen kennt. Die Entwicklung und Implementierung der "tiefen Operation", die als Doktrin bis heute maßgeblichen Einfluss hat. Die zentrale Organisation von Logistik und Nachschub durch die
Hauptdirektion der Rückwärtigen Abteilung der Roten Armee, die sich ihren deutschen Gegenstücken (der Plural ist hier sehr wichtig) als deutlich überlegen erwies.
Auf britischer Seite müssen die "Codeknacker" von
Betchley Park natürlich Erwähnung finden. Eine derart straff und zentral organisierte Institution für spezifisch diesen Zweck konnten die anderen Kriegsparteien nur sehr bedingt aufstellen - und im Bezug auf die frühe Computertechnologie stellte das dort versammelte Wissen alles in den Schatten. Ebenso stellte das
Dowding-System während der "Luftschlacht um England" das erste IADS (Integrated Air Defense System) dar, also ein System der Flugabwehr von taktischer bis strategischer Ebene, in der alle Komponenten und Einheiten (Radar, Geschütze, Flieger, etc.) organisch ineinander greifen.
Hier lässt sich der Bogen zum zentralen Punkt der alliierten Innovationen schlagen. Es handelt sich in vielen Fällen um bemerkenswert simple und scheinbar banale Punkte (wie z. B. die Beschränkung auf einige wenige Modelle, Standardisierung und Vereinfachung) in Kombination mit zentraler und gut strukturierter Organisation. Dafür stehen exemplarisch die bereits erwähnte sowjetische Logistikführung und in den USA das War Production Board und das Amt für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung. Ersteres koordinierte im Wesentlichen jeden Aspekt der amerikanischen Militärproduktion, sowohl in Bezug auf das, was benötigt wurde, als auch in Bezug auf die Art und Weise, wie es beschafft werden sollte. Das Office of Scientific Research and Development war für die Forschung und Entwicklung zuständig und entschied, was gebaut werden sollte. Diese beiden Institutionen wurden von "unpolitischen" Experten geführt, die in demokratischen Staaten zudem unabhängiger Kontrolle unterlagen. Durch die zentrale Organisation gab es kein Wirrwarr an Zuständigkeiten und Rivalitäten. Im Gegensatz dazu förderte gerade Hitler den Aufbau von parallelen Behörden und Organisationen, die erbittert um Einfluss und Ressourcen rangen und sich hinter jeweiligen Einflussträgern wie Göring oder Bormann positionierten.
Ebenso fällt auf, dass keine dieser Innovationen als "die eine große Sache, die den Krieg entscheiden wird" (vielleicht mit Ausnahme der Atombombe) angesehen wurde, sondern als Teil von etwas Größerem, als Rädchen in einer Gesamtmaschinerie. Gerade auf deutscher und japanischer Seite klammerte man sich dagegen an wenig effektive, aber beeindruckende Großprojekte, an die man völlig überzogene Hoffnungen und Erwartungen knüpfte. Da steckt das Problem schon im Begriff der "Wunderwaffe" - sie soll Wunder bewirken und grundlegende Versäumnisse auf anderen, scheinbar unwichtigeren und weniger glamourösen Feldern kompensieren.
Zum Abschluss nochmal ein kleiner Bogen auf die Seite der Achsenmächte. Dort fand ich besonders die Rolle des
Wehrmachts-Einheitskanisters sehr interessant, dessen effektives Design damals eine echte neue Neuerung darstellte und nach und nach zivil wie militärisch weltweit übernommen wurde. Weitaus weniger geeignet für Wochenschauen als eine "Bismarck" - aber wahrscheinlich wichtiger.
Faszinierend ist auch die Ansicht, dass es die (zu Unrecht) gerne zur klischeehaften Witzfigur degradierten Streitkräfte Italiens waren, die mit der
Beretta M1938 die wohl beste Maschinenpistole dieser Ära entwickelten und einsetzten. Ein weiterer Beweis, dass man sich vor allzu bequemen Abziehbildern hüten sollte.
Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre und hoffe, dass vielleicht der ein oder andere neue oder interessante Punkt dabei ist.