DLF-Kommentar vom 01.10.2010
Von Frank Capellan, Hauptstadtstudio
Stuttgart 21- es geht nicht mehr um einen Bahnhof. Es geht auch nicht um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, wie uns die Kanzlerin einzureden versucht. Es geht um die Zukunftsfähigkeit unserer Demokratie, könnte man Angela Merkel zynisch erwidern.
Was sich in Stuttgart abspielte, war ein Lehrstück darüber, wie der Staat mit seinen Bürgern, mit seinen Kritikern, nicht umgehen darf! Die Polizei stand keinem schwarzen Block von gewaltbereiten Chaoten gegenüber, sie richtete Wasserwerfer auf Schüler und Jugendliche, auf Familien mit Kindern. Und dann stellt sich Baden-Württembergs Innenminister mit der dreisten Anschuldigung ins Fernsehen, Mütter und Väter, die ihre Kinder instrumentalisieren und in die vorderste Reihe schicken, sind selbst schuld, wenn sie getroffen werden. Wer so argumentiert, ist falsch auf seinem Posten. Heribert Rech sollte sich schnell einen neuen Job suchen.
Was eigentlich schwafeln Politiker, wenn sie beklagen, dass sich junge Leute viel zu wenig politisch interessieren und engagieren? Tun sie es dann doch, werden sie sogleich kriminalisiert. Die vielen Schüler, die gestern dabei waren, werden begeistert sein von der körperlichen Erfahrung mit Staat und Demokratie ...
Um weiteren politischen Schaden abzuwenden, muss und wird sich auch Berlin mit dem Prestige-Projekt beschäftigen müssen. Keine Geringere als die CDU-Vorsitzende hat Stuttgart 21 zu einem bundespolitischen Thema gemacht. Die Kanzlerin war es, die in der Haushaltsdebatte trotzig erklärte, in jedem Fall am Bau festzuhalten. Sie hat ohne Not provoziert, als sie lautstark angekündigte, die Landtagswahl zur Volksabstimmung über den unterirdischen Bahnhof zu machen. Natürlich - dieses Projekt ist demokratisch legitimiert, die Bürger haben zu lange geschlafen, sie hätten früher protestieren müssen.
Andererseits hat sich die Entscheidungsgrundlage wohl geringfügig verändert, seit sich die Baukosten zumindest verdoppelt haben, von vier Milliarden Euro ist nun die Rede. Unsere Volksvertreter müssen sich im Übrigen fragen lassen, wie wenig Gespür sie eigentlich für die Stimmung ihres Volkes haben - zwei Drittel der Stuttgarter sind gegen das von ihnen beschlossene Projekt.
Wenn die Verantwortlichen heute behaupten, jeder hätte doch schon vor Jahren die Möglichkeit gehabt, eine Bürgerbeteiligung zu beantragen, dann darf man wohl fragen: Warum eigentlich haben die Politiker ihre Bürger nicht von sich aus beteiligt? Warum haben sie nicht gefragt, was die von Stuttgart 21 halten? Das Projekt jetzt mit aller (Polizei-)Gewalt durchsetzen zu wollen, einen vorläufigen Baustopp nicht einmal in Erwägung zu ziehen, das schadet unserer Demokratie und sogar dem immer wieder gern bemühten Ansehen Deutschlands im Ausland. Darum geht es seit gestern: nicht mehr um einen schnöden Bahnhof!