Es ist richtig, vor Pauschalisierungen zu warnen. Man kann allerdings objektiv belegbare Beobachtungen machen und daraus anschließend seine Schlussfolgerungen ziehen. Und da muss man bedauerlicherweise festhalten: Eine mit der westlichen oder anderen Vorgehensweise vergleichbare Aufarbeitung und Kritik an der eigenen Geschichte als Eroberer, Sklavenhalter, Plünderer und Völkermörder findet in der islamischen Welt (der Einfachheit halber möge man mir diesen breiten Begriff, der Staaten von Albanien bis nach Indonesien umfasst und ähnlich fluide wie "der Westen" ist, nachsehen) weder in der Tiefe noch in der Breite statt.
Der von arabischen Halbinsel aus kontrollierte Sklavenhandel in Afrika währte über einen Zeitraum von ca. 1.300 Jahren und zwang 9 Millionen Menschen unter unmenschlichste Bedingungen. Wie eng die Verquickung zwischen der Vorstellung, man sei aufgrund der Religion (Islam) und der Ethnie (Araber) allen anderen Menschen überlegen, war, zeigt sich exemplarisch im Mahdi-Aufstand 1881 im heutigen Ägypten und Sudan. Die britischen Kolonialherren dort schufen die Sklaverei ab - prompt entbrannte ein Aufstand, der sich aus Hass gegen die "Ungläubigen" und deren "Einmischung" in das einträgliche Geschäft mit der Sklaverei speiste. Auch der Versuch der Mahdi-Anhänger, das seit dem 4. Jahrhundert christliche Äthiopien zu unterwerfen, wurde explizit damit begründet, man wolle die dortigen "Ungläubigen" versklaven.
Es gibt bis heute nicht einen Hauch von Kritik im Sudan oder der arabischen Halbinsel an dieser langen und zahlreiche Menschen betreffenden Geschichte der Sklaverei. Und ich übertreibe hier nicht: Es gibt nicht nur keine Kritik, sondern man ist dort explizit stolz auf diese Kapitel und führt es nahtlos weiter. Im Sudan ist es der Völkermord der Dschandschawid-Milizen an der nicht-arabischen, nicht-muslimischen Bevölkerung, auf der arabischen Halbinsel werden bevorzugt nicht-arabische, nicht-muslimische Menschen in sklavenähnlichen Bedingungen halten und die Verachtung gegenüber den "Ungläubigen" wird nur mühsam kaschiert. Es gibt dort keine Lehrstühle für Post-Colonial studies, keine öffentlichen Proteste, keine Debatte über Lehrbücher, keine Diskussion um die Umbenennung von Straßen und Plätzen, keine Anregung, gestohlene Güter zurückzugeben oder Reparationen, keine Entschuldigungen. Nicht mal im Ansatz.
In Indonesien sieht es im Bezug auf den Völkermord in Ost-Timor, das als Kolonie erobert werden sollte, ähnlich aus. Statt Kritik an den von indonesischen Truppen verübten Massakern pflegt man dort einen dezidierten und immer stärker religiös aufgeladenen Hass insbesondere auf Australien, das im Rahmen einer UN-Friedenmission noch schlimmere Gräueltaten verhinderte. Und auch hier: Gesamtgesellschaftlich kein Hauch von Scham oder Reue zu beobachten, das Gegenteil ist der Fall: Die Bevölkerung wird in immer stärkerem Maße streng religiös und feindselig, beispielsweise gegenüber der jüdischen Bevölkerung - die gerade einmal 500 Personen umfasst.
Im Bezug auf die Türkei und deren Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern muss ich glaube ich nicht zu weit ausholen. Es stimmt, dass sowohl die vergleichsweise säkularen Nationalisten als auch die Islamisten dieses Verbrechen entweder leugnen oder positiv bewerten, auffällig ist aber, dass mit dem Aufstieg Erdogans und einer Türkei, die mit großen Schritten Richtung Gottesstaat unterwegs ist und in absehbarer Zeit auch einer werden wird, die religiöse Komponente der angeblichen Überlegenheit noch einmal besonders kräftig betont wird. Die aggressive Glorifizierung des Osmanischen Reiches wäre, um einen Vergleich zu ziehen, im heutigen Spanien und den Katholizismus im Bezug auf dessen imperiale Vergangenheit etwas, das auf breite interne Kritik stoßen würde. In der Türkei ist es umgekehrt, da sind Kritiker in der absoluten Minderheit.
Ausnahmen von der Regel sind immer etwas, das man nicht übersehen sollte. Aber wenn von 500 Menschen 400 schreien "Wir finden Genozid so richtig toll" und die restlichen 100 entweder schweigen oder leise flüsternd ein bisschen Kritik anbringen, muss man die Mehrheits- und Machtverhältnisse anerkennen. Im Großdeutschen Reich konnten die Nationalsozialisten auf die grundsätzliche Unterstützung der deutlichen Bevölkerungsmehrheit zählen und mussten vom Rest oft nur mit punktueller oder pragmatisch motivierte Kritik rechnen ("Juden vertreiben ist ja ganz in Ordnung, aber umbringen muss man sie nicht, oder wenn schon nach dem Krieg, wenn die Mittel nicht anderweitig gebraucht werden").
Ich öffne die Argumente mal etwas abseits des historischen Bogens und stelle folgende Frage: Wäre in auch nur einem mehrheitlich muslimischen Land ein Film über Mohammed im Stil von "Das Leben des Brian" gegenwärtig oder, sagen wir mal einer Generation, auch nur grundsätzlich möglich? Die Antwort lautet Nein. Allein schon die Tatsache, dass Mohammed ein Kriegsherr, Sklavenhalter, Eroberer und religiöser Unterdrücker war, der seine Überzeugungen explizit gewaltsam verbreitet hat und Kritiker töten ließ, öffnet einen maßgeblichen Unterschied zu den Gründungsfiguren anderer Religionen wie des Christentums und des Buddhismus. Dort kann man sich, in Ablehnung der genannten Taten, auf diese Stiftungsfiguren berufen (im Hinduismus sieht es z. B. schon wieder anders aus).
In den meisten westlichen Staaten hat sich zumindest grundsätzlich die Vorstellung durchgesetzt, dass Religion zwar wichtig ist, aber nicht das gesamte Leben aller Menschen in einer Gesellschaft bestimmen sollte, und man gewisse Handlungen, ob gegenwärtig oder in der Vergangenheit, kritisch sehen kann oder vielleicht sogar sehen muss. Ähnliches hat in Teilen in Japan stattgefunden und anderen Gebieten des buddhistisch geprägten Asiens (mit deutlichen Ausnahmen, z. B. in Myanmar), wohingegen man in Indien das Erstarken eines hinduistisch geprägten Fundamentalismus beobachten kann.
Diese Säkularisierung schreitet in Deutschland zumindest grundsätzlich voran, lässt sich in der islamischen Welt und eben auch Indien hingegen nicht beobachten, und teilweise breiten sich fundamentalistische oder strenge Einstellungen auch in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen weitaus stärker aus, man denke an die Evangelikalen in den USA, ultra-orthodoxes Judentum in Israel oder eben dezidiert erzkonservative oder reaktionäre islamische Glaubensüberzeugungen in Deutschland.
Kurzum: Pauschalisierungen verbieten sich. Dass es mindestens zwei Geschwindigkeiten im Bezug auf Aufarbeitung und Kritik gibt und in Teilen der Trend sogar in die andere Richtung geht, ist keine, sondern eine Tatsache.
Wenn eine Schnecke in eine gute Richtung kriecht, ist es zwar langsam, aber sie kommt voran. Kriecht eine andere Schnecke noch langsamer, ändert das nichts am Tempo der Ersten. Und macht eine kehrt und kriecht in die andere Richtung, sollte man davor nicht die Augen verschließen - damit wird das Problem nicht gelöst.