DICKE WOLKEN HINGEN über dem sumpfigen See, dessen Wasser das Licht der untergehenden Sonne reflektierte. Die schneidende Kälte vereiste die feine Schneeschicht, die sich auf den kleinen Inseln gesammelt hatte. Weidendickichte hatten sich dort angesiedelt und ragten in den dunklen Himmel empor.
Thuêban hockte am Ufer und blickte in den Schlamm, in dem die Spuren der verschwundenen Abenteurergruppe zu erkennen waren. Guikut sah kurz zu Wanda, die beim etwas entfernten Weg an einem kleinen Baum gebunden worden war, dann blinzelte er mit seiner schwarzen Augentraube. Er konnte keine Details im gefrorenen Boden erkennen.
"Mindestens drei Menschen, vielleicht vier," erklärte Thuêban, während sie die Umrisse der Abdrücke mit ihren Fingern nachzeichnete. "Abenteurer oder Soldaten, ansonsten wird niemand mit solcher Ausrüstung herumlaufen."
...sieht aus wie Schlamm...
Die Hexenjägerin tippte auf eine Stelle. "Gute Stiefel mit Stahlkappen. Und hier sind weitere Abdrücke. Kniekappen und anscheinend auch ein Schulterschutz." Ihr Blick folgte den Rillen. "Die Schleifspuren führen ins Wasser."
Guikut sah zur dünnen Eisschicht, die das Ufer umringte. Sie wirkte nicht durchbrochen. Dann blieb sein Blick an einem Schwertknauf hängen, dessen Klinge nach zwei Fingerbreit abgebrochen war. Beinahe vom Schlamm des Sees bedeckt lag die Waffe unter Wasser.
Mit einem dünnen, beinahe vollständig nachgewachsenen Arm, deutete er auf den Fund. Thuêban beugte sich näher an den Knauf und griff ins kalte Nass, zog das zerbrochene Schwert aus dem See. Mit einem leichten Nicken wiegte sie es in der Hand.
"Recht leicht." Mehr zu sich, als zu ihrem Gefährten. "Dies war eine feine Klinge."
Sie drehte den Griff, betrachtete die Bruchstelle und auch Guikut rückte mit seinem Körper näher an sie heran. Es war keine Spur von Kraftanwendung zu sehen. Die beiden sahen sich irritiert an, dann schob Thuêban das Fundstück in ihren Gürtel und sah nach beiden Seiten.
Zu ihrer Linken war ein dichter Schilfgürtel, vor dem Enten im Wasser schwammen und nach Nahrung suchten. Zu ihrer Rechten sah sie eine kleine Landzunge, auf der einige ältere Weiden und Buchen wuchsen. Die Hexenjägerin erhob sich und ging zu den Weiden, kam mit einem langen Ast wieder zurück zur Stelle, an der immer noch Guikut wartete.
Mit dem Weidenast begann sie im Wasser herumzustochern und wo es einige Handbreit hinter dem Eis noch flach war, begann es danach ziemlich schnell stufenweise tiefer zu werden. Mit dem Stiefel brach die die dünne Eisschicht auf und watete dann vorsichtig in den kalten Schlick, den Ast in der einen Hand und eine gezogene Axt in der anderen.
Dann blickten beide Hexenjäger auf, als die Enten am Schilf quakend aufflogen. Das Wasser bewegte sich, als würde sich etwas Großes unter der Oberfläche verschieben. Einen Schritt machte Thuêban in diese Richtung, als die Sporenwolke von Guikut sie erreichte.
...mich mitnehmen...
Kurz zögerte Thuêban, dann kam sie zurück ans Ufer und nahm den Mycnoiden auf ihren Rücken. Die Arme schwang er um ihre Schultern, die Beine um den Bauch und so stapfte Thuêban wieder ins knietiefe Wasser hinein, kämpfte dort mit dem Schlick, der an ihren Stiefeln zog.
Dann eine Bewegung im Schilf. Drei humanoide Schatten, die dort standen, aufrecht und vom Licht der rötlichen Sonne umkranzt.
Thuêban hob ihren Stock, winkte den Gestalten zu. "He da!"
Nun hob auch die vorderste der Figuren einen Arm und eine dünne Stimme erklang. "He!"
Guikut winkte und kurz darauf taten es ihnen die beiden Schatten hinter dem Ersten gleich.
Weitere Rufe wehten zu den beiden Hexenjägern.
"He da!"
"He!"
Guikut wickelte seine Arme und Beine enger um Thuêbans Körper.
...hab komisches Gefühl dabei... sind Spiegelbilder... winken uns selber zu...
Thuêban stutzte. Kurz dachte sie nach, dann festigte sie ihren Griff um den Griff ihrer Axt. Schließlich wagte sie einige weitere Schritte auf den Schilfgürtel zu, wo nun eine Frau mit langen, dunklen Haaren zum Vorschein kam. Sie war nicht viel größer als Thuêban selber, aber vollends nackt und bis zu den Oberschenkeln im eisigen Wasser versunken. Immer noch winkte sie.
...Vorsicht...
Thuêban drehte ihren Kopf, flüsterte Guikut leise über ihre Schulter hinweg zu: "Ich denke, wir sollten wieder festen Boden gewinnen."
Der Mycnoid nickte mit seinem Pilzschirm und die im Schlamm um Halt ringende Frau stakste schräg zum Ufer zurück. Die anderen beiden Gestalten schoben sich nun auch hinter dem Schilf hervor und auch sie waren nackte Frauen, die im Wasser standen und winkten.
"He!"
Die andere versuchte etwas zu sagen, presste dann letztendlich schwerfällig etwas zwischen ihren Lippen hervor. "Wwwwartet..."
Guikut verkrampfte sich auf Thuêbans Rücken. Keine der seltsamen Frauen rührte auch nur eines ihrer Beine, während sie näher und näher kamen. Es sah aus, als würden sie im Wasser gezogen werden, die Beine immer in der selben Stellung zusammengedrückt, nur Arme, Mund und Haare in Bewegung.
...Samthaut-Krake...
Thuêban atmete scharf ein. Sie kannte Geschichten über diese Wesen, die normalerweise im und in der Nähe der Sternsee lebten, wo die magische Verseuchung seit dem Fall des Sterns mitunter am höchsten war. Soweit angepasst hatten sie sich an ihre schnell verändernde Umwelt, dass sich einzelne Fangarme durch Muskel- und Hautkontrolle verändern ließen und sie als Köder verwendet wurden. Große Exemplare fraßen Menschen und Vertreter der anderen Völker, wenn die Süßwasserkraken sie ins Nass locken konnten.
Aber seit wann gab es diese Kreaturen auch hier, mehrere Wochenreisen entfernt von der Sternsee? Hatten Wasservögel die klebrigen Eier eingeschleppt? Waren sie von sich aus von See zu See und von Teich zu Teich gewandert? Oder waren sie durch unachtsame oder sogar böswillige Personen hier her gebracht worden?
Kurz hauchte Thuêban ein unverständliches Gebet und das Blatt ihrer Axt glimmte bläulich auf. Dann bewegte sie sich schnell zum Ufer, die drei Nackten stets im Auge behaltend. Die folgten ihr wortlos aber an Geschwindigkeit gewinnend und eine kleine Bugwelle hob sich vor ihren Beinen, die sich immer noch starr durchs Wasser schoben.
Mit einem letzten Satz konnte sich die Hexenjägerin ans Ufer retten und ging in eine geduckte Abwehrhaltung, während die vorderste Frau der Länge nach auf die dünne Eisschicht am Rand des Wassers klatschte. Dann verformte sich der Körper, wurde schrumpelig und glich nach nur einigen Augenblicken einem großen, dicken Tentakel, der sich im Schlamm wand und zurück in den See gezogen wurde.
Die anderen beiden Gestalten rückten weiter zum Ufer, ihre Züge immer noch Frauen gleichend. Doch war das Trugbild nun zerstört, das Geheimnis offen gelegt...
Eine im Abendlicht glitzernde Wolke aus Sporen breitete sich von Guikuts Lamellen aus und ein Zucken durchfuhr die beiden Gestalten. Ein weiterer Ruck und hinter den beiden Frauen hob sich zuerst die Wasseroberfläche, dann schob sich ein großer Klumpen Fleisch ins Freie.
Zwischen unzähligen Augen öffnete sich ein scharfer Hornschnabel und ein tiefer, nasser Laut, wie eine Mischung aus dem Blubbern von heißem Teer und dem Fauchen einer Katze, erklang. Dann verschwand die Bestie unter den aufgewühlten Wogen.
Die beiden Frauen standen noch kurz an ihrer Stelle bevor sie überraschend schnell mit in die Tiefe gezogen wurden. Die Wasseroberfläche beruhige sich langsam und nur noch einige wenige Luftblasen kamen empor gestiegen.
...weg vom See...
Eilig lief Thuêban zurück zu Wanda, die ihnen neugierig entgegen starrte, ließ den Mycnoiden von ihrem Rücken gleiten. Unschlüssig sah sie zurück zum See. Guikut bemerkte ihren Blick.
...Tierchen lebt hier... lassen es in Ruhe... kein Grund zu töten...
Thuêban berührte den Schwerknauf, der immer noch in ihrem Gürtel steckte, meinte dann leise, wieder Kontrolle über ihren Atem erlangend: "Und wir haben etwas, was wir zu Geld machen können..."
...Behörden warnen... damit niemand mehr gefressen wird...
Die Hexenjägerin nickte ihrem Gefährten zu.
***
Solonios Juhnkraut saß an seinem Arbeitstisch, einen Teller mit Schmalzkringeln und einen Becher dampfenden Tee vor ihm ruhend. Der gnomische Landbüttel sah die ungleichen Kameraden eindringlich an, schrieb dann einige weitere Sätze in sein Notizbuch.
"Ich werde da ein Schild aufstellen," brummte er, als er wieder zu ihnen hoch sah. "Und in der Umgebung die Kunde verbreiten, dass man nackten Damen im und am See nicht vertrauen sollte."
Thuêban blickte aus dem Fenster der kleinen Schreibstube. Dieser Ort hatte nicht einmal einen Namen. Lediglich drei Häuser an einer Kreuzung, nicht mehr. Aber wenigstens war hier der Posten der Landbüttel. Wenigstens konnten sie hier ihre Meldung machen.
Der Gnom lächelte sie warm an, kratzte sich im purpurroten Haar.
"Wenn die vermisste Gruppe nur aus Männern bestand..." Er zuckte mit seinen schmalen Schultern. "...und das habe ich gehört... ist es eigentlich klar, dass die armen Teufel auf diese List hereingefallen sind."
...armes Tierchen will nur essen...
Solonios Juhnkraut sah Guikut zufrieden an. "Dann muss es sich in Zukunft mit Gänsen zufrieden geben."
***
Das Seeufer lag kalt und einsam unter der winterlichen Wolkendecke. Vereinzelte Schneeflocken fielen auf den Weg, der in Steinwurfweite am Wasser vorbeiführte und auf der eine kleine Gruppe Abenteurerinnen wanderte. Sie redeten ausgelassen miteinander, lachten und deuteten zum See, vor dessen dichtem Schilfgürtel ein einsames Schild in den Boden gehämmert worden war.
Unbeschwert schritten sie zum auf die Eisfläche am Rand des Gewässers zu, hielten kurz erstaunt an und begannen dann zu winken. Drei nackte Männer, die einige Meter vom Ufer entfernt bis zu den Waden im Wasser standen, erwiderten ihren Gruß...