[Lianna | Lola Curich | Gewerbegebiet | Arbeiterkaserne | Nen-Axas Wohnung] Nen-Axa, Noi, Jem, Las Eru
Die Wohnung, die Nen-Axa und seine Familie nach ihrer Ankunft auf Lianna bezogen hatten und in der sie auch jetzt noch wohnten, lag am Rand des Gewerbegebietes, in dem unter anderem die Jedibasis lag. Es war keine der besten Gegenden von Lola Curich, und auch die Wohnung selbst war klein und nicht sonderlich modern. Aber sie hatten sich im Lauf der Zeit behaglich eingerichtet und vor allem die Kinder, die sich an Cona kaum erinnern konnten, fühlten sich hier zuhause. Der größte Vorteil jedoch war, dass man von der Wohnung aus bequem zu Fuß zur Jedibasis und zurück gelangen konnte. Diese kurzen Wege machten es Nen-Axa einfacher, seine Pflichten miteinander zu vereinbaren, und ermöglichten es zugleich den Kindern, ihn auch gelegentlich in der Basis zu besuchen. Dass dies heute - am ersten Tag ihrer Trennung nach Nen-Axas kurzer Auszeit von den Pflichten beim Orden - nicht geschehen sollte, darauf hatten sich der Jedi und Las Eru, der großväterliche Betreuer der Kinder, geeinigt. Es sollte nun wieder Normalität einkehren.
Um so ungeduldiger erwarteten sie ihn nun, und als der Jedi die Tür öffnete, wurde er sofort von zwei kleinen, klammernden Wesen angefallen, die offenbar schon dahinter gewartet hatten. Eine Mischung aus Jubel, aber auch überzeugend ernste Kritik brandete auf ihn ein. Während Jem an seinem Vater empor zu klettern versuchte, was ihm jedoch nur mit Unterstützung gelang, fragte Noi in strengem Tonfall und mit in die Seiten gestemmten Händchen:
»Wieso kommst du so spät?«
»Es ist viel früher als sonst meistens«, antwortete Nen-Axa, doch er vermutete schon, dass sie ihm das nicht durchgehen lassen würde.
»Es ist gar nicht früh! Du hast gesagt dass du bald nach hause kommst, aber jetzt ist schon Abend.«
»Früher ging es leider nicht. Was habt ihr heute gemacht?« versuchte er, das Thema zu wechseln.
»Gespielt«, antwortete Jem, von Nen-Axas Schulter aus. »Sago war zu Besuch und wir haben draußen gespielt.«
»Und Jem ist wieder auf die Mauer geklettert, obwohl Las Eru gesagt hat, dass er das nicht soll.«
»Stimmt ja gar nicht!«
So berichteten die Kinder durcheinander plappernd von den Erlebnissen dieses Tages, die in ihren Kinderaugen allesamt große, bedeutsame Abenteuer gewesen waren. Nen-Axa bewunderte ihren außergewöhnlichen Blick auf die Dinge und ihre Begeisterungsfähigkeit, die selbst aus Kleinigkeiten Schätze und aus zufälligen Begegnungen auf dem Spielplatz beste Freunde machte. Zudem war ihre Welt so unglaublich einfach und übersichtlich: Auf kindlich-unschuldige Weise waren sie unfähig, die Welt aus einem größeren Blickwinkeln zu sehen als dem eigenen, und so schafften sie es, all das Glück und Leid der Welt nicht an sich heranzulassen, sondern sich ganz dem Moment hinzugeben. So spielte es auch keine Rolle für sie, was ihr Vater heute erlebt hatte: Er war nicht bei ihnen und also auch nicht Teil der Geschichte gewesen, bis er vor wenigen Minuten wieder durch die Tür getreten und damit in den Focus ihrer Wahrnehmung zurückgekehrt war. So fiel auch ihre Erzählung etwas einseitig aus, und erst als ihnen nichts Berichtenswertes mehr einfiel, fragte Noi:
»Hast du jetzt endlich einen Padawan?«
Nen-Axa musste lachen. Er hatte erwähnt, dass er vorhatte, bald einen eigenen Schüler anzunehmen. Doch während er sich von der Geschwindigkeit der heutigen Ereignisse überrumpelt gefühlt hatte, schien es seiner Tochter so, als sei ein ganzer Tag viel zu lange für eine solch bedeutsame Entwicklung. Vielleicht hatte sie damit sogar recht, in gewisser Weise.
»Ja. Ein Mädchen, oder eher eine junge Frau. Ihr Name ist Lerameé Bar'jaraka und sie kommt vom Planeten Maridun.«
Er beschrieb nun das Wesen und das Äußere seiner Schülerin. Die Kinder hörten gespannt zu, und vor allem die Tatsache, dass Lerameé kaum größer war als sie und zudem noch Fell und einen langen Schwanz hatte, faszinierte und belustigte sie gleichermaßen. Besonders begeistert waren sie von der Schilderung Mariduns: Beide konnten nicht genug bekommen von Erzählungen über fremde Planeten, und am liebsten wären sie sofort in ein Raumschiff gestiegen, um fünf Sekunden später durch die Grasebenen jener Welt zu tollen. Nen-Axa nahm sich vor, sie bei Gelegenheit auf einen nahen Planeten mitzunehmen, damit sie mehr von der Galaxis sahen als nur Lola Curich.
Das Gespräch endete, als Las Eru mit der Zubereitung des Essens fertig war. Der ältere Arconier war wirklich eine unschätzbare Hilfe. Wäre er nicht hier, um sich beinahe rund um die Uhr um Noi und Jem zu kümmern und zugleich den Haushalt zu führen, hätte Nen-Axa seinen Pflichten als Jedi kaum gerecht werden können. Für die Kinder war er längst so etwas wie ein Großvater, und auch Nen-Axa betrachtete ihn mehr als Familienmitglied, nicht nur einen Freund.
Nach dem Essen bestanden die Kleinen darauf, dass ihr Vater noch eine Weile mit ihnen spielte, und als es schließlich Schlafenszeit war, musste er wie üblich eine Geschichte erzählen. Den Brauch, dass die Eltern ihren Kindern vor dem Schlafengehen noch etwas erzählten oder vorlasen, hatte er bei den Menschen gefunden und für seine Familie übernommen. Tatsächlich konnte die eigene Phantasie den Kleinen viel lebhaftere, buntere und schönere Bilder bescheren, als ein Holo es jemals vermocht hätte, und sie genossen vor allem diesen Moment der Nähe. In ihren Augen war ihr Vater der größte Geschichtenerzähler aller Zeiten, auch wenn er diese Ansicht nicht teilte, aber natürlich wusste er sehr genau, welche Art von Geschichten sie gerne hörten. Letztlich waren es immer nur Variationen derselben Story, die sie immer und immer wieder verlangten: Stets ging es um eine Familie, die natürlich immer aus einem Vater, zwei Kindern und einem alten großväterlichen Freund bestand, die auf einem fremden Planeten spannende Abenteuer erlebte. Dass sie diese heil und mühelos überstanden und letztlich alles in Glück und Harmonie endete, war völlig selbstverständlich. In der beruhigenden Gewissheit, dass alle Schwierigkeiten sich lösen ließen und trotz aller Aufregung zuletzt doch immer wieder die gewohnte Ordnung einkehren würde, ohne dass sich jemals etwas Gewohntes dauerhaft änderte, schliefen sie anschließend schnell ein.
Nen-Axa hingegen fand in dieser Nacht nur wenig Ruhe. Er erwachte nach einem unschönen Traum, an dessen Inhalt er sich jedoch nicht erinnern konnte. Zunächst suchte er Entspannung in Jedi-Meditationstechniken, doch spürte er, dass er damit etwas, das ihn beschäftigte, nur zu verdrängen drohte. Er stand auf und ging in die Küche, wo er das Fenster breit öffnete, um hinaus in die kühle Nacht zu blicken und sich über seine Gedanken klar zu werden. Draußen war es niemals völlig finster und auch nie völlig ruhig: Lola Curich schlief nicht, auch wenn seine Aktivität sich mit den Tageszeiten veränderte und verlagerte. Auch jetzt, nach Mitternacht, waren auf den Straßen und am Himmel viele Fahrzeuge unterwegs, in vielen nahen Fabriken wurde gearbeitet, und unzählige Lichter verdeckten den Sternenhimmel, der hier über der lebendigen Stadt niemals so klar zusehen war wie über den planetenweiten Wüsten Conas.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Las Eru. Nen-Axa hatte sein Kommen nicht bemerkt, wohl aber mitbekommen, dass der ältere Mann eine ganze Weile hinter ihm stand, bevor er ihn ansprach.
»Es war ein ereignisreicher Tag«, antwortete der Jedi ausweichend.
»Es ist nicht leicht, sie morgens wieder verlassen zu müssen, nicht wahr?«
»Ja und nein. Natürlich würden wir gerne mehr Zeit miteinander verbringen, und gerade heute war es nicht ganz leicht. Aber wir wissen sie bei dir in den allerbesten Händen.«
»Was ist es dann? Dein Padawan?«
Nen-Axa seufzte.
»Wir waren uns von Anfang an sicher, wie wichtig die Ausbildung neuer Schüler ist, und ich habe mich auf diese Aufgabe gefreut. Aber jetzt geht alles so schnell. Ein Padawan bedeutet eine große Verantwortung und wir wissen noch nicht, ob ich ihr gerecht werden kann.«
»Einem Erwachsenen etwas beizubringen, kann kaum schwieriger sein, als Kinder zu erziehen. Und damit kommst du sehr gut zurecht, insbesondere durch die Gelassenheit, die du bei den Jedi gelernt hast. Wer Jem und Noi dazu bringen kann, freiwillig schlafen zu gehen, der kann auch Jedi ausbilden, meinst du nicht auch?«
»Vielleicht stimmt das sogar. Aber innerhalb der Familie hatten wir Gelegenheit, gemeinsam zu wachsen und zu lernen. Die Anforderungen sind nach und nach größer geworden. Lerameés Meister wurde ich von einem Moment auf den anderen, und wir können nicht wissen, ob ich ausreichend darauf vorbereitet bin.«
Las Eru trat neben Nen-Axa und klopfte ihm auf die Schulter.
»Auch Kinder werden von einem Moment auf den anderen geboren, und niemand ist wirklich darauf vorbereitet. Trotzdem warst du den Kleinen vom ersten Moment an ein guter Vater. Selbst als deine Frau gestorben ist und als sich dein Leben völlig umgekrempelt hat. Wenn du dir einredest, früher sei alles einfacher gewesen, betrügst du dich selbst. Es war niemals leicht, und du warst niemals Herr der Lage, aber hast immer das Beste daraus gemacht. Wir können nicht erkennen, warum es jetzt anders sein sollte.«
Für ein paar Sekunden herrschte nachdenkliches Schweigen, während dessen Nen-Axa sich eingestand, dass der Ältere sehr weise Worte sprach. Trotzdem genügte dies noch nicht, ihm die irrationale Sorge vollends zu nehmen.
»Was wenn sie auf die dunkle Seite gerät?«
»Nach dem, was du erzählst, besteht diese Gefahr immer und für jeden. Selbst der erfahrenste und weiseste Jedi ist manchmal in Versuchung. Du selbst hast widerstanden, obwohl du noch gar keine Ausbildung und noch keinen Lehrer hattest. Deine Schülerin hingegen kann von deinen Erfahrungen und deiner Anleitung profitieren. Sie hat also wesentlich bessere Anfangsvoraussetzungen als du. Meinst du nicht, dass das ihre Chancen steigern wird?«
Abermals schwieg Nen-Axa, bevor er antwortete:
»Du hast natürlich recht. Niemand erwartet von einem Jediritter, dass er überhaupt keine Fehler macht, sondern nur, dass er sein Bestes gibt. Lerameé wird ihren Weg schon gehen, und wir werden ihr dabei helfen, so gut wir können. Wir müssen einfach Vertrauen haben. Der Wunsch nach absoluter Kontrolle und Perfektion ist unnatürlich, er führt zu unangemessenen Selbstzweifeln und kann ebenfalls ein Weg zur dunklen Seite sein; das ist nicht das Vorbild, das wir ihr vermitteln wollen, noch der Pfad, den ich selbst beschreiten will.
All diese Dinge sind uns schon in den Sinn gekommen, aber es tut gut, sie nochmals aus deinem Mund zu hören. Es hilft, klarer zu sehen. Weißt du, ich beneide Noi und Jem. Ihre Welt ist so wunderbar einfach.«
»Ihre Welt ist kein Stück einfacher als unsere, auch wenn wir das glauben, weil wir sie von außen betrachten und sie an unserem größeren Erfahrungsschatz messen. Aber für viele kleinen Probleme, die dir alltäglich und nebensächlich erscheinen, kennen sie die Lösungen noch nicht. Es gibt in ihrer Welt ebenso Streit und Unfriede, Unglück, Schicksalsschläge und scheinbar unlösbare Schwierigkeiten wie in unserer. Uns mögen sie unbedeutend erscheinen, weil wir schon mit ganz anderen Ärgernissen konfrontiert waren. Aber aus ihrem Blickwinkel betrachtet ist ein schmerzender Insektenstich, eine Hänselei oder ein Freund, der in eine andere Stadt zieht, etwas ebenso Großes, Neues und Erschreckendes wie die Probleme, mit denen wir uns herumschlagen müssen. Es kostet sie nicht weniger Kraft, mit diesen Dingen fertig zu werden und an ihnen zu wachsen. Aber sie schaffen es, weil sie es müssen. Deine Kinder sind stark, Nen-Axa. Sie machen ihren Weg. Aber nur weil es einfach aussieht, heißt es nicht, dass es das auch ist. Sonst könne jeder von uns Gegenstände durch die Luft schweben lassen.«
Verblüfft wandte sich der Jedi zu seinem alten Freund um und blickte ihm eine Weile direkt in die Augen. Sein Gesichtsausdruck vermittelte Überraschung und Staunen, während der Ältere völlig ruhig und gelassen wirkte.
»Du bist ein sehr weiser Mann, Eru. Du hast gerade viele wahre Dinge gesagt, die ich bisher völlig übersehen hatte, und mir gerade viel zum Nachdenken gegeben. Ich danke dir dafür!«
»Nein, ich danke dir«, erwiderte Las Eru, und Nen-Axa wusste nicht, was er damit meinte. Doch er fragte auch nicht, und beide Männer kehrten in ihre Schlafzimmer zurück.
Seine Überlegungen begleiteten den Jediritter noch in den Schlaf, doch hinderten sie ihn nicht daran, Ruhe zu finden.
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