Helmut Kohl ahnte es und Franz Josef Strauß, der SPD-Verteidigungsminister Hans Apel und der CSU-Politiker Friedrich Zimmermann, US-Präsident Ronald Reagan ohnehin: Die westdeutsche Friedensbewegung am Anfang der Achtzigerjahre sei "von Moskau gesteuert", verkündeten diese und andere Politiker immer wieder öffentlich. Doch solche Warnungen konnten dem Wirken der Botschaft "Abrüstung um jeden Preis" nichts anhaben. Obwohl inzwischen klar ist, dass der Nato-Doppelbeschluss richtig war, praktisch alle Annahmen der westdeutschen Friedensbewegung dagegen falsch, mögen sich viele ehemalige Ostermarschierer und Mutlangen-Blockierer mit der einfachen Wahrheit nicht abfinden: Sie ließen sich von den Sowjets instrumentalisieren.Heute erscheint in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte ein Aufsatz, der gestützt auf bisher unzugängliche Akten in Moskauer Archiven sowie auf verstreute sonstige Quellen schlüssig die Rolle der Sowjetunion im Ringen um die Nachrüstung der Nato nachzeichnet (Heft 2/2009, Oldenbourg-Verlag München). Der Osteuropa-Historiker Gerhard Wettig beschreibt das Kalkül der sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew und Juri Andropow. Das Moskauer Politbüro wusste, dass der Warschauer Pakt Ende der Siebzigerjahre in Europa dem westlichen Bündnis massiv überlegen war. Bei den konventionellen Systemen sowieso, aber eben auch bei Kernwaffen: Die westlichen Länder verfügten "gegenwärtig und in den nächsten Jahren über keinen auch nur annähernd gleichwertigen Raketenkomplex" wie die neue sowjetische SS-20, verkündete Verteidigungsminister Dimitri Ustinow stolz.
Die neue Waffe, mit 5000 Kilometern Reichweite und drei unabhängig steuerbaren Atomsprengköpfen sollte im Kriegsfall alle militärisch wichtigen Ziele der europäischen Nato-Staaten zu Land und zu Wasser vernichten. Sie war speziell entwickelt worden, um die Verteidigung des westlichen Bündnisses schlagartig auszuschalten. Damit galt das Problem der "vorne stationierten Systeme" der USA, also der US-Kernwaffen in Europa, als gelöst. Das Ziel war, Westeuropa politisch vom amerikanischen Abschreckungsschirm abzukoppeln. Nach Ustinows Worten würde diese militärische Strategie der Sowjetunion eine "entschiedene" Außenpolitik erlauben.
Diesem Plan lag eine mindestens eigenwillige Weltsicht zugrunde: Die Sowjetunion sei aufgrund ihres sozialistischen Charakters prinzipiell "friedliebend" und könne daher andere Länder gar nicht bedrohen. Deshalb hielt die sowjetische Seite das Konzept der Abschreckung, auf das der Westen setzte, für aggressiv und offensiv. Dass die Drohung mit der potenziell möglichen wechselseitigen Vernichtung in Wirklichkeit einen Krieg verhindern sollte, verstanden die ideologisch geprägten Mächtigen in Moskau nicht. "Diese Prämisse ließ alle sowjetischen Aufrüstungsbemühungen defensiv erscheinen", urteilt Wettig und fügt hinzu, so erkläre sich, "warum Breschnew, Andropow, Gromyko und andere Führungsmitglieder augenscheinlich glaubten, sie könnten auf dieser Grundlage eine Vereinbarung mit dem Westen erzielen, sobald dort nach Ausschaltung der ,aggressiven' Kräfte Vernunft eingekehrt sei".
Allerdings war nicht zu erwarten, dass die westlichen Regierungen von sich aus nachgeben würden. Dennoch sei es propagandistisch erforderlich, wie Ustinow betonte, Appelle an sie zu richten. Denn die Kremlführung setzte im sich abzeichnenden Konflikt von Anfang an nicht auf Verhandlungen, sondern auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit in Westeuropa, besonders in der Bundesrepublik.
Anhand von Dokumenten aus dem "Russischen Staatsarchiv für neueste Geschichte" kann Wettig belegen, wie im Oktober 1979 eine systematische Kampagne gegen die Nachrüstung angeschoben und mit Geld aus Moskau bezahlt wurde. Sie sollte eine den sowjetischen Interessen nützliche Verzerrung der Realität etablieren: Die geplante Nachrüstung der Nato bedeute eine "Destabilisierung" des "bestehenden Gleichgewichts". Dass in Wirklichkeit die SS-20 das bis Mitte der Siebzigerjahre bestehende Gleichgewicht zugunsten der Sowjets verschoben hatte, sollte aus der Wahrnehmung der westeuropäischen Staaten verdrängt werden.
Doch allein die kommunistischen Parteien in Westeuropa und ihnen nahe stehende Gruppen, in der Bundesrepublik etwa die "Deutsche Friedensunion" (DFU), konnten die nötige öffentliche Mobilisierung nicht schaffen. Daher wies der Kreml am 13. Dezember 1979 auf einer Geheimtagung im ungarischen Tihany die Delegierten von 28 kommunistischen Parteien an, in diesem Fall taktische Bündnisse mit Sozialdemokraten im Westen einzugehen, um mit ihrer Hilfe die Nato zu unterminieren; allerdings sollte dieses Ziel nicht offen zugegeben, sondern nur unterschwellig vermittelt werden.
Fünf Tage später erklärte ein leitender Funktionär der Internationalen Abteilung der KPdSU auf einer Sitzung des "Weltfriedensrats" vor Vertretern von 39 "Frontorganisationen" aus 35 Ländern, die Stationierung amerikanischer Raketen in Westeuropa dürfe nicht zugelassen werden. Man rief dazu auf, "1980 zum Jahr der Massenaktion gegen das imperialistische Wettrüsten" zu machen unter der Parole: "Handelt jetzt: Beseitigt die Gefahr neuer US-Raketen!" Zwar galten die sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa auch nach diesen Anweisungen den Kommunisten vor Ort weiter als "Feinde im internationalen Klassenkampf", die man langfristig bekämpfen müsse. Doch aktuell hatte ein anderes Ziel Vorrang: Durch ihre Beteilung am von Moskau gesteuerten Kampf gegen die Nachrüstung sollte die nun entstehende Friedensbewegung im Westen vom Ruch kommunistischer Steuerung befreit werden.
Das gelang mit einer, so Wettig, "aparten Kombination von Argumenten und Ressourcen". DKP, DFU und andere kommunistische Tarnorganisationen schafften es dank Geldern aus der DDR, die Friedensbewegung zu unterwandern und bald zu steuern. Ihr wichtigstes Dokument, der "Krefelder Appell" vom 16. November 1980, war weitgehend aus Moskau und Ost-Berlin vorgegeben; dennoch unterschrieben ihn bis 1983 rund vier Millionen Bundesbürger.
Nicht einkalkuliert hatten die Strategen des sowjetischen Politbüros freilich zwei Faktoren: Nicht zuletzt die erfolgreiche Propaganda in der SPD führte zum Sturz von Bundeskanzler Helmut Schmidt; sein Nachfolger Helmut Kohl aber verzichtete nicht auf den Nato-Doppelbeschluss, sondern setzte die Nachrüstung gegen heftigen Widerstand durch. Und zweitens führte die öffentlichkeitswirksame Propaganda im Westen zur Bildung einer Friedensbewegung in der DDR, die bald die vermeintliche Friedfertigkeit des Warschauer Paktes dekonstruierte. So orientierte sich der "Berliner Appell" von Robert Havemann und Rainer Eppelmann teilweise am "Krefelder Appell", drehte die Stoßrichtung aber um: gegen die sowjetische Aufrüstung. So stärkte die Moskauer Kampagne gegen den Nato-Doppelbeschluss indirekt die Opposition im Ostblock und trug damit wesentlich zur Implosion des Kommunismus bei.