Dschungelmond von Va'art, bei einem ausgehöhlten Baum, mit Ian
Sie spürte seine Qualen und seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener - vielleicht war es auch ihr eigener, sie war zu erschöpft und zu verwirrt, um alles auseinanderzuhalten. Sie beide waren völlig offen, völlig ohne Abschirmung, wenn sich Dinge vermischten, wäre das zumindest kein Wunder. Eowyns Angst vor seinen Worten wuchs und wuchs, sie wünschte beinahe, sie hätte nicht gefragt, und doch wusste sie, dass es keinen anderen Ausweg gab. Sie konnte alles, was sie gehört hatte, nicht einfach so hinnehmen. Wenn sie nun nicht zuhörte, wenn sie ihre Fragen zurücknahm, dann war alles, was je zwischen Ian und ihr war, was je hätte werden können, zerstört.
Sie wollte nicht zuhören. Aber wenn Ian nun da durchkam und mit ihr sprach, wenn er sich überwand und weiterredete - dann konnte sie auch zuhören. Das war das mindeste, und sie musste einfach durchhalten. Sie zitterte, vor Angst, vor Kälte, vor allem. Aber sie war über dem Stadium hinaus, in dem es eine Rolle spielte. Was nun zählte war ihr Geist und ihr Verstand, und ihr Herz. Vielleicht vor allem ihr Herz.
Und so stand sie da, versuchte ihren Körper zu vergessen, versuchte zu vergessen, dass der Regen auf sie niederprasselte und ihre Brust zu zerspringen drohte.
Als er schließlich zu sprechen begann war das nicht der Ian, den sie kannte. Seine Stimme klang unnatürlich, aber es war nicht nur das. Es war all das, was auch dahintersteckte. Der Ian, den sie kannte, war fest, standhaft, überzeugt - ob nun von positiven Dingen oder von negativen. Der Ian, der nun redete... er war anders. Definitiv anders. Und wäre es ihr nicht schon längst klar gewesen, spätestens jetzt hätte sie bemerkt, dass hier sein absolutes Innerstes sprach, dass sie am Kern angelangt waren. Dass nun Nuancen entscheiden konnten zwischen zerstören und erstarken.
Keiner der Namen sagte ihr etwas, aber warum auch? Erschreckend genug, dass die Liste so lang war, und seine Familienmitglieder darunter zählte. Sie hatte später keinen guten Draht zu ihrem Vater gehabt, aber niemals, niemals hätte er solche Dinge über sie gesagt... was musste geschehen, dass ein Vater so etwas sagte? Oder eine Mutter? Hatten Geschwister nicht normalerweise mehr Verständnis untereinander? Oder war dies gewesen, nachdem Ian schon seine Morde begangen hatte, und seine Familie hatte davon gewusst? Offensichtlich hatten ihre Worte Wirkung gezeigt. Ians Abscheu vor sich selbst war nicht zu überhören und erst Recht nicht, nicht zu fühlen. Sie unterdrückte den Impuls, ihm darauf zu antworten - ihre Antwort auf eine solche Aussage wäre jetzt sicher nicht passend. Ganz sicher nicht passend... und vor allem musste sie an den Abstand denken. Abstand, seine Worte nicht an sich heranlassen. Sie musste sachlich bleiben, so wie gerade eben. Sachlich bewerten, zuhören, abwägen, entscheiden. Auch wenn sie am Liebsten widersprochen hätte.
Aber das würde ihnen nicht weiterhelfen.
Seine nächsten Worte beantworteten ihre Frage nicht wirklich, aber war das auch überhaupt möglich? Es musste Jahre her sein, und vielleicht lag die Antwort eher in der Art der... Morde als in einer gefühlten Erinnerung. Blind, dumm, voller Hass - war dies nicht das übliche Schema eines Mordes im Affekt? Und die übliche Ursache für einen Machtnutzer, zur dunklen Seite abzuweichen. Sachlich analysierte sie, konzentrierte sich nur ganz auf seine Worte. Wenn dies nicht Ian wäre, wenn dies jemand wäre, den sie nicht kannte... wie würde sie dann handeln, denken, was würde sie sagen? Was würde sie raten, wie würde sie hier damit umgehen?
Aber es war Ian, verdammt, und es war schlicht unmöglich, das zu ignorieren. Verzweifelt ging ihr Blick zum Himmel - jedes Mal, wenn sie dachte, sie hätte alles unter Kontrolle entglitt ihr alles wieder, kamen irgendwelche Emotionen hoch, sie sie doch ganz tief irgendwo vergraben wollte.
Ians noch immer wachsender Schmerz machte es nicht einfacher - nein, vielleicht war es auch gerade das, was sie immer wieder daran erinnerte, um was es hier ging. Um wen es hier ging. Sie war kein Droide. Sie konnte nicht logisch, sachlich bleiben, wenn... ja, wenn Ian vor ihr saß und die Qualen nur so ausstrahlte.
Er sprach nicht weiter. Er sprach nicht weiter, und ein kleiner - oder ein großer? - Teil von ihr war erleichtert. Er würde zurückhalten, sie musste nicht mehr erfahren. Er zog hier einen Schlussstrich... Sie musste nicht mehr hören. Aber der andere Teil, der, der ihn irgendwie verstehen wollte, der, der verstand, dass ohne Wissen kein aufeinander zugehen folgen würde... dieser Teil wiederum drängte in ihr, drängte sie, ihn zu ermutigen, dass er sprechen musste, wenn er wollte, dass... Ja, wenn er was wollte?
Sie hielt das Schweigen nicht aus, ertrug nicht, wie alles in der Schwebe hing - was, wenn er nun wirklich nicht weitersprach? Was würde geschehen?
Sie setzte sich wieder in Bewegung, um die Spannung, die sich in ihr anbaute, ein wenig abzubauen, lief wenige Schritte hin und her. Es ging so nicht. Wie konnte sie das ertragen, die Unwissenheit und gleichzeitig das Wissen? Und dazu noch dieser verfluchte Regen, dieser verfluchte Mond, diese verfluchte Nacht, diese verfluchte Dunkelheit! Als ob es nicht so schon schwer genug wäre, hatte sich auch noch alles gegen sie verschworen, hatten sie sich den besten Zeitpunkt für all das ausgesucht.
Ihre Wut auf das Wetter, auf die Situation abzureagieren war leichter - nicht nur leichter, es war überhaupt etwas, das sie tun konnte. Was hatten sie sich dabei gedacht? Sie hätten schlafen gehen sollen, ganz einfach, sie hätte Ians verdammte Hand einfach... da war der Schmerz wieder, mittendrin in ihrer Bewegung, und sie keuchte auf. Hatte ja wunderbar funktioniert, ihre Ablenkung. Entnervt gab sie auf, lief wieder die drei Schritte zu ihrem Ausgangspunkt zurück, als ihr Fuß gegen etwas Hartes, Metallenes stieß. Das war jetzt nicht... doch, das war es, und sie hatte den Eindruck, als wolle irgendjemand sie hier verhöhnen. Dass der Leuchtstab nur wenige Meter neben ihr gelegen hatte, die ganze Zeit, das war... sie war kurz davor, weit auszuholen und ihn schreiend in den Dschungel zu werfen. Das war doch wohl ein schlechter Witz!
Dennoch atmete sie durch, behielt ihn in der Hand. Er war einfach zu wichtig. Irgendwann konnte ihrer beiden Leben davon abhängen. Und obwohl sie sich die ganze Zeit nach Licht gesehnt hatte aktivierte sie ihn nun nicht. Vielleicht... vielleicht war es doch einfacher, wenn es dunkel war. Wenn Ian nicht sah, mit wem er sprach... es reichte schon, dass sie beide sich so deutlich spürten. Aber es war gut, ihn in der Hand zu halten, eine Sicherheit, eine Hilfe. Es war gut, überhaupt etwas festzuhalten, nachdem ihr Lichtschwert noch immer auf dem Boden brannte, und nachdem Ian... Sie atmete scharf ein. Logisch bleiben. Zuhören...
Sie zuckte zusammen, als Ian schließlich doch sprach - und gleich noch einmal, als sie die Zahl hörte. Eowyn schloss die Augen. Acht. Acht... Acht Leben, die genommen worden waren. Acht Leben beendet. Einfach so. Acht... Mehr als die Zahl der Schüler, die sie je gehabt hatte. Wenn sie sich das vorstellte... nein, sie sollte sich das nicht vorstellen. Sie sollte zuhören.
Sie konzentrierte sich wieder auf Ian, der stockend erzählte, immer wieder abbrach, weitersprach. Er kam zu spät? Das hatte sie doch schon einmal gehört... Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Tahiri. Als er von Tahiris Tod erzählt hatte, da waren es ähnliche Worte gewesen. Also doch.
Eowyns Augen füllten sich erneut mit Tränen, doch dieses Mal nicht vor ihrem eigenen Schmerz. Tahiri. Tahiri, ermordet, Tahiri, die Tahiri, von der er mit solcher Liebe gesprochen hatte. Die Tahiri, die er hatte heiraten wollen, sein Ein und Alles. Und es war doppelt so schrecklich, als sie sich an seine Worte erinnerte - Tahiri hätte niemals zugelassen, dass Ian sich so veränderte, und doch war es geschehen - auf Grund dessen, was ihr zugestoßen war.
Liebe war furchtbar. Erfüllte Liebe sicher nicht... aber so oft ging es schief, so oft entstand daraus Leid, Schmerz - Rache. Beinahe war sie dankbar, dass sie dieses Gefühl nie wirklich hatte ihr eigen nennen können, als sie nun spürte, wie Ian litt, als sie verstand, was geschehen sein musste.
Drei hatte er getötet. Drei Mörder ermordet... Selbstjustiz. Selbstjustiz, weil er sie so geliebt hatte... er hatte etwas getan, das sie vermutlich nie gewollt hatte.
Eowyn verabscheute Mord. Mord war falsch. Sie hatten nicht das Recht, jemandes Leben einfach so zu beenden. Es war so. Ganz einfach.
Doch gab es da wirklich nur schwarz und weiß, war es so einfach? Hätte man diese Mörder gefasst, hätte man sie nicht ohnehin zum Tode verurteilt...?
Moment. Versuchte sie da gerade ernsthaft, Ian zu verteidigen?!? War es schon so weit gekommen? Wo waren ihre Prinzipien? Mord war falsch! Es gab nur schwarz und weiß in diesem Fall!
Aber Ians Stimme, wie er von Tahiri sprach, sein Ausdruck in seinem Gesicht, das ließ sie nicht mehr los. Nein, es war selbstverständlich falsch, aber war es nicht auch gleichzeitig, irgendwie, ein kleines bisschen... verständlich? Eine solche Situation war ein Ausnahmezustand. Man handelte, dachte nicht nach... Ja. Es war nicht richtig, aber... konnte sie ihm eine solche Handlung im Affekt wirklich vorwerfen? Es war immerhin Tahiri gewesen! Sie hatte niemals jemanden so sehr geliebt, wie Ian es offensichtlich getan hatte, aber sie glaubte dennoch, es verstehen zu können. Zum Sarlacc mit ihren Prinzipien.
Ihre letzte Frage jedoch stand noch aus, und da war es, da war das, wovor sie solche Angst gehabt hatte. Ihre Angst war begründet gewesen. Beinahe ihre schlimmsten Befürchtungen waren eingetreten. Die Zeit stand still, und sie spürte förmlich, wie ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und der Leuchtstab auf selbigen fiel. Sie schwankte, keuchte auf, versuchte irgendwie, ihr Gleichgewicht beizubehalten und sich hinzusetzen. Eine Hand fand den Boden, und schließlich war sie zumindest davor sicher, auf der Erde aufzuschlagen.
Er wusste nicht, ob er bereute. Wusste nicht. Wusste es nicht.
Wie konnte er das nicht wissen? Wie konnte er? Sie wollte ihn anschreien, es ihm ins Gesicht schreien, bis er ihr antwortete, aber er selbst schrie beinahe, sie würde nicht dagegen ankommen. Oder wusste er es, und dachte nur, es sei einfacher, es ihr nicht direkt zu sagen? War er so feige? Neben ihrem eigenen Schmerz spürte sie nun die Wut, die von Ian ausging, Wut, die sicher nicht gegen sie gerichtet war, aber die ihre Angst nur noch verstärkte. Ihn jetzt damit auseinanderzusetzen... sie wusste nicht, zu was das führen konnte.
Aber selber konnte sie nun nichts mehr zurückhalten. Es war vorbei mit dem Abstand, vorbei mit allem anderen, ihrer Beherrschung, ihrer Kontrolle. Wenn er nicht wusste, wenn er nicht bereute... dann hatte sie sich geirrt. Die ganze Zeit über. Dann war alles, was Eowyn in ihm gesehen hatte, nur eine Fassade, nur äußerlich. Sie war sich so sicher gewesen, sie hatte ihr eigenes Leben dafür aufs Spiel gesetzt. Der Schmerz brach nun aus ihr heraus, unaufhaltsam, die Dämme waren gebrochen. Wie hatte sie so irren können? Sie verstand es nicht.
Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, versuchte wenigstens ihr Schluchzen unter Kontrolle zu halten, zu verhindern, dass er sie so hörte. Sie wollte jetzt den Abstand, wollte ihn so sehr, weil alles andere viel zu sehr schmerzte. Es war zu viel, viel zu viel, sie wollte nichts mehr hören, konnte nichts mehr hören. Ians nächste stotternde Worte gingen unter in ihrer Konzentration auf sich selbst.
Seine Wut war ungebrochen, sie spürte es, war es die Erinnerung, die ihn dahin trieb? Wut war allerdings etwas, gegen das sie nichts tun konnte - selbst wenn sie überhaupt in der Lage gewesen wäre, irgendetwas zu tun. Sie konnte dahingehend nur hier sitzen und hoffen, dass er sich fangen würde. Sie woltle nicht daran denken, was in einem anderen Fall geschehen würde. Und so lange konnte sie selber versuchen, sich wieder zu fangen.
Sie horchte auf, als er wieder sprach, wenn man es sprechen nennen konnte. Warum sie es wissen wollte? Warum sie es wissen wollte? Und was, was sah sie nicht? Konnte er seine Sätze nicht einfach beenden? Sah er denn nicht? Sie konnte nicht anders, als verblüfft aufzulachen. Und all das, was sich in ihr angestaut hatte, brach plötzlich heraus. Ich will nicht, Ian! schrie sie verzweifelt in die Nacht hinaus. Sah er denn nicht? Sie hieb mit ihren Fäusten auf den Boden. SAH ER DENN NICHT? Ich will nicht!, schrie sie, versuchte sich zu kontrollieren, aber ich muss! Sie atmete schwer durch, starrte in ihr Lichtschwert, das da im Schlamm lag, wollte ihn nicht ansehen. Ruhig. Ruhig...
Wieder etwas beherrschter sprach sie weiter. Ich muss, weil es nicht anders geht, weil sonst... weil sonst alles vorbei war? Weil sonst nichts mehr gehen würde? Weil sonst alles wieder zusammenbrach? Ich wünschte... sie wünschte... was? Sie müsste es nicht hören? Das alles wäre nie geschehen? Sie hätte Ian nie getroffen, um das alles nicht durchzumachen?
Nein. Nein nein nein. Er war doch anders, er konnte so viel mehr sein...
Sie hatte sich geirrt, er war es nicht.
Sie konnte sich nicht irren.
Was nun? Ich wünschte, sagte sie schließlich nur leise, zitternd, versuchte zu formulieren, was ihr innigster Wunsch war, ich wünschte, ich könnte verstehen und akzeptieren. Und dafür musste sie nun einmal alles hören.
Hatte sie da zu viel gesagt? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, und letzten Endes war es ihr egal. Eowyn hatte keine Nerven mehr, um sich darum zu kümmern. Sie zog die Beine an und legte erschöpft den Kopf darauf.
Sie konnte nicht mehr.
Ein für alle mal.
Aber es war nicht vorbei. Einfach nicht vorbei. Und ob sie konnte oder nicht, es ging weiter, sie erwachte nicht aus einem Alptraum, sie konnte es nicht einfach so beenden.
Und Ian konnte nicht bereuen. Was hieß das nun wieder? Wenigstens hatte er sich beruhigt, seine Wut war verraucht, sein Zorn verschwunden. Und sie spürte wieder ein wenig mehr den Ian, den sie kannte... den sie nicht kannte? Er würde bereuen, aber es ging nicht? Verwirrt schloss sie die Augen. Hatte er Angst davor, zu bereuen? Weshalb? Das ergab doch keinen Sinn. Aber ergab irgendetwas hier gerade Sinn? Ergaben Gefühle jemals Sinn? Er würde bereuen, hieß das nicht, dass er wollte? Und hieß, bereuen zu wollen nicht automatisch, dass man es tat? Bereuen war nichts, für das man sich entscheiden konnte. Entweder man fühlte es... oder man tat es nicht. Was hielt ihn davon ab? War es eine schräge unbewusste Art, Tahiris Andenken zu ehren? Konnte er nicht bereuen weil er Angst hatte, dass Tahiri ein Bereuen dahingehend interpretieren würde, dass er einen Fehler gemacht hatte - und damit, dass ihr Tod ihm nicht einmal das Wert war? Das war absurd. Völlig absurd, er konnte nicht so denken. Sie war so durcheinander, dass sie völlig abstruse Theorien aufstellte. Sie wollte ihn einfach irgendwie verteidigen, versuchte alle möglichen Wege, dass sie damit klarkam.
Aber. War das nicht das Gleiche? Kämpfte sie nicht mit solcher Macht darum, ihn zu verteidigen, zu verstehen, dass sie sich nicht schon längst entschieden hatte, ihn verstehen und akzeptieren zu wollen, alles mögliche dafür zu tun, ihn auch verstehen zu können? Ihn akzeptieren zu können, mit all dem, was geschehen war? Das war nun einmal alles nicht rational. Sie versuchte hier Dinge mit dem Kopf zu entscheiden, bei denen ihr Kopf keine Chance hatte. Es war das Herz, das sprechen musste.
Sprach nicht die Tatsache, dass er die Tat nicht wiederholen würde, für sich? War nicht das das, was zählte? Nein. Das war wichtig, zweifelsohne, aber es lag ihr schwer im Magen, dass Ian keine klare Aussage treffen konnte, was ihre Frage davor anging. Doch es quälte ihn. Quälte ihn selbst... war er vielleicht auch zu hart zu sich selbst? Gestand er sich nicht zu, bereuen zu können? Dachte er, er hätte dieses Gefühl nicht verdient? Schon wieder eine verrückte Theorie. Aber so verrückt das alles auch klang, sie war sich nicht hundertprozentig sicher, ob Ian bei seiner verdrehten Logik nicht vielleicht wirklich so dachte. Konnte sie ihn fallen lassen, nur weil er selbst sich aufgegeben hatte?
Sie hatte beinahe vergessen, dass da noch fünf Morde fehlten. Fünf Tote, von denen sie noch nicht das Geringste wusste. Sie zuckte erneut zusammen, als er damit herausrückte, kurz abhandelte, beinahe beiläufig. Seine... Familie? War das sein Ernst? Natürlich war das sein Ernst. Und seine nächsten Worte, so unbedeutend daher gesagt, und dennoch nicht weniger schmerzvoll, sie rückten nun alles ins Bild.
Eowyn verstand.
Sie wusste nicht weshalb, aber sie verstand. Gequält von der eigenen Familie - den Begriff Monster in einem Atemzug zu nennen mit dem, was einen beschützen sollte, was einen halten sollte. Wie konnte man da nicht brechen? Wie konnte man da einen normalen Weg gehen? Man musste doch regelrecht durchdrehen, Fehler machen - wie sollte es anders sein, wenn man nie ein Vorbild hatte, das einem zeigte, wie es richtig war? Hass erzeugte Hass. Gewalt erzeugte Gewalt.
Nein, es war noch immer falsch, was er getan hatte, falsch, schrecklich, unvorstellbar. Aber gleichzeitig... gleichzeitig begriff Eowyn. Sie verstand nicht, wie das möglich war, wie konnte man wissen, dass etwas so unvorstellbar falsch war, und es dennoch verstehen? Vielleicht, weil sie den anderen Ian tatsächlich kannte. Vielleicht, weil sie sich doch nicht geirrt hatte?
Andererseits musste sie es auch nicht verstehen. Sie musste nicht immer alles verstehen, analysieren.
Und da war er wieder, fast wieder da, zumindest seine Stimme klang der seinen wieder viel ähnlicher. Überzeugend. Fest. Sicher.
Er würde es ungeschehen machen? Aber bedeutete genau das nicht, dass er doch bereute? Hieß bereuen nicht, dass man den Fehler nicht wiederholen wollte, dass man, wenn man konnte, alles rückgängig machen wollte? War das nicht das Wichtigste, was Reue anging?
Und obwohl sie wusste, dass er nicht weitersprach hatte sie das dringende Gefühl, dass er sie bat, sie anflehte, ihm zu glauben. Eowyn wusste nicht, was sie sich einbildete, was nicht, es war eine viel zu verwirrende und ausufernde Situation, als das sie noch irgendwie durchblicken konnte. Aber sie wusste, dass jetzt, hier und jetzt, der Moment gekommen war, in dem er sie brauchte. Der Moment, in dem sie entscheiden musste.
In ihr schrie alles danach, zu ihm zu gehen, ihm zu helfen, ihm zu versichern, dass sie mit seiner Vergangenheit klarkam, doch ihr Kopf hielt sie zurück. Sie konnte ihn nicht anlügen. Sie konnte nur zu ihm gehen, wenn sie ihn auch wirklich halten konnte. Wenn sie ihm jetzt Halt gab, nur um ihn später wieder fallenzulassen... nein. Sie selbst hatte vorhin nur mit Mühe und Not den Absprung geschafft, und das hier war noch einmal etwas anderes. Was sie jetzt tat oder sagte würde entscheidend sein.
Und damit kam sie gerade absolut gar nicht klar.
Nein.
Sie konnte nicht jetzt, in dieser Nacht, eine solche Entscheidung treffen! Das war Wahnsinn! Sie musste sich ausruhen, darüber nachdenken, in Ruhe ihre Gefühle erkunden. Jeder vernünftige Mensch würde das tun, und auch sie. Eigentlich.
Aber gleichzeitig wusste sie, dass es schon morgen zu spät sein konnte. Es gab Dinge, die mussten bald geschehen. Es gab Dinge, bei denen durfte man nicht warten, sonst waren sie nicht wieder gutzumachen. Sie durfte nun keinen Fehler machen, weder in die eine, noch in die andere Richtung.
Er hatte es gesagt. Er hatte gewusst, dass sie es hören wollte, und er hatte es gesagt.
Oder nicht?
Stang, hätte er sich nicht schon früher deutlicher ausdrücken können?
Nein, keine Ablenkung jetzt.
Er wollte es ungeschehen machen. Mehr konnte sie nicht von ihm verlangen.
Weshalb hatte sie ihm all diese Fragen gestellt, ihn all diese Qualen durchleiden lassen, wenn sie jetzt, wo sie ihre Antworten hatte, noch immer zögerte?
Weil es nicht so einfach war. Weil es einfach trotzdem nicht so einfach war.
Doch weshalb zweifelte sie? Sie kannte Ian, den vernünftigen Ian, den manchmal sturköpfigen, intelligenten, starken Ian. Den manchmal sanften Ian, den Ian, der sie zum Lachen und zum Weinen bringen konnte. Den Ian, der sie verstand. Sie kannte ihn.
Er hatte eine Vergangenheit. Eine, die er nicht wollte, eine die er nicht verschwinden lassen konnte, aber wiederum auch eine, die nicht aus purer Bösartigkeit entstanden war oder aus Neid, Missgunst, Eifersucht oder dem Drang nach Macht.
Nein, sie konnte nichts versprechen. Aber wäre es nicht genauso falsch, sich nun von ihm abzuwenden, nur weil sie jetzt wusste, was der dunkle Fleck in seiner Vergangenheit war? Und nicht sicher wusste, wie sie damit umgehen sollte? War es nicht umso wichtiger, dass er ihr alles gesagt hatte, dass er ehrlich gewesen war, dass er sie nicht im Ungewissen gelassen hatte? Es wäre so einfach gewesen. Sie hätte niemals gefragt. Aber vielleicht... vielleicht doch, irgendwann, und mit jedem Tag, den er es ihr nicht gesagt hätte, wäre es schlimmer geworden. Er hatte alles aufs Spiel gesetzt, nur um das Richtige zu tun.
Was konnten sie selbst da noch verlieren? Was konnte sie diese kleine, letzte Chance verweigern?
Sie war viel zu erschöpft, um aufzustehen, und so tastete Eowyn nur nach dem Leuchtstab, der hier irgendwo liegen musste, ergriff ihn und kroch langsam auf den dunklen Schatten bei ihrem Lichtschwert zu. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, als sie schließlich bei ihm angekommen war. Was sollte sie schon sagen? Es gab nichts zu sagen. Sie konnte nichts sagen, denn alles, was sie sagen würde, wäre vielleicht falsch. Sie konnte ihm nichts versprechen. Sie konnte ihm nicht sagen, dass alles gut werden würde. Sie konnte nicht sagen, dass alles in Ordnung war. Sie konnte auch nicht sagen, dass sie es akzeptierte. Das alles... wäre nicht ehrlich, und wenn er etwas verdient hatte, dann Ehrlichkeit.
Sie tastete vorsichtig nach seiner Hand, die sie im Schein des Lichtschwertes erkennen konnte, berührte sie nur ganz seicht mit ihren Fingerspitzen und bemühte sich, obwohl sie so fürchterlich, fürchterlich erschöpft, gebrochen, müde und am Ende war, um einen ruhigen Tonfall. Sagte das einzige, das der Wahrheit entsprechen konnte.
Ich bin da.
Dschungelmond von Va'art, bei einem ausgehöhlten Baum, mit Ian